Ein lebendiges Archiv, das immer weiterwächst:
Die Arolsen Archives online
Warum ist es so wichtig, dass die weltweit größte Sammlung von Dokumenten über die NS-Verfolgung digitalisiert und im Internet veröffentlicht wird? Was kann ein Archiv gegen Fake News ausrichten? Das beantwortet Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives: Sie hat in den letzten Jahren mit ihrem Team neue Ziele und eine umfassende digitale Strategie für die Institution entwickelt.
Frau Azoulay, welche Ziele verfolgen die Arolsen Archives mit der Online-Veröffentlichung ihrer Bestände?
Wir machen unsere Dokumente zugänglich – für Menschen jeden Alters und überall in der Welt. Und wir liefern Kontextinformationen dazu, als Werkzeuge für das Verständnis dieser Dokumente und ihre Einordnung in Geschichte und Politik. Damit verfolgen wir vor allem zwei Ziele: Erstens halten wir die Erinnerung und das Gedenken an die NS-Verfolgung wach. Wir wollen ein „digitales Denkmal“ für die vielen Millionen Opfer erschaffen. Zweitens sind unsere Dokumente Beweismittel. Sie stehen für die Wahrheit über den Holocaust und über die Gräueltaten der Nazis. Mit der Onlinestellung rücken wir diese Beweise und diese Wahrheit mitten in die Gesellschaft – gegen Holocaustleugner, Fake News und Verdrehung der geschichtlichen Tatsachen.
Wie setzen Sie das Online-Archiv technologisch um?
Wir sind unserem Partner Yad Vashem sehr dankbar dafür, dass sie den technischen Part übernommen haben, um eine erweiterte Holocaust-Dokumentation zu ermöglichen und weltweit verfügbar zu machen. Das Online-Archiv baut auf der hochmodernen Technologie von Yad Vashem auf und nutzt eine einzigartige Datenbank zur erweiterten Ort- und Namensuche, die von den Wissenschaftlern des Yad-Vashem-Archivs entwickelt wurde. So wird die Holocaust-Dokumentation besser zugänglich und nachvollziehbar.
Jetzt stehen 26 Millionen Dokumente von 30 Millionen der historischen Bestände im Internet. Welche Dokumente sind noch nicht dabei?
Einige Unterlagen müssen wir zuerst neu digitalisieren. Es gibt auch eine kleine Zahl an Dokumenten wie Krankenakten, deren Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte verletzen könnten. Für viele Kopien aus anderen Archiven fehlt uns außerdem die Erlaubnis, sie zu veröffentlichen. Das sind zusammengenommen die vier Millionen Dokumente aus den historischen Beständen, die nicht online sind. Dazu kommen viele Millionen Dokumente, die während der Arbeit unserer Institution entstanden sind. Damit werden wir uns in den kommenden Jahren beschäftigen – zum Beispiel unsere „Zentrale Namenkartei“, ein ganz besonderer Bestand: Die Mitarbeiter haben sie als Hilfskartei angelegt und genutzt. Sie enthält Millionen von Namen der NS-Verfolgten. Deshalb hat sie eine große Bedeutung für unsere Gesellschaft. Wie die historischen Bestände auch zählt sie zum UNESCO Weltdokumentenerbe. Wir überlegen derzeit, wie wir diese Kartei veröffentlichen werden.
Sie stellen auch Bestände online, die man noch gar nicht nach Schlagworten durchsuchen kann. Warum?
Unser Verständnis von Online-Stellung hat sich in den letzten Jahren um 180 Grad gedreht. Früher wollten wir ein „Fenster ins Archiv“, bereitstellen, um auf unseren Bestand und unsere Leistungen aufmerksam zu machen. Heute sagen wir: Das Online-Archiv ist unser Archiv. Es kommt zu den Leuten ins Wohnzimmer und sie haben von dort aus auf alles Zugriff. Deshalb stellen wir so viele Dokumente so schnell wie möglich bereit und warten nicht erst, bis ein Bestand perfekt indiziert und nach allen Informationen durchsuchbar ist. Beschreibungen und Kontextinformationen liefern wir einfach nach. Das zeigt auch, wie wir unsere Nutzer heute sehen. Vorher haben wir ihnen nicht viel zugetraut. Aber die Nutzer unseres Online-Archivs sind mündig. Sie sollen selbst entscheiden, wann und wie sie unsere Dokumente nutzen.
Wie wollen sie die Durchsuchbarkeit der Dokumente weiter verbessern?
Wir setzen weiterhin auf die manuelle Indizierung. Dafür haben wir sehr qualifizierte Leute im Haus. Weil es so viele Dokumente sind, müssen wir aber auch auf externe Dienstleister zurückgreifen und machen dann intern nur noch eine Qualitätsprüfung. Außerdem testen wir Programme zur automatischen Indizierung. Und gerade haben wir das groß angelegte Crowdsourcing-Projekt „Jeder Name zählt“ ins Leben gerufen: Über eine Internet-Plattform kann uns nun jeder helfen, die Namen der NS-Opfer in unser Online-Archiv zu übertragen.
Wann ist dieser Digitalisierungs-Prozess abgeschlossen?
Die Online-Stellung und die Indizierung der Namen sollen bis 2025 abgeschlossen sein. Aber die Digitalisierung wird nie „fertig“ sein: Wir sind ein lebendiges Archiv, das online auch durch die Verknüpfung mit Informationen außerhalb der Arolsen Archives immer weiterwachsen wird, sodass wir künftig Lebenswege rekonstruieren können. Auch die Nutzer selbst sollen die Möglichkeit bekommen, ihre eigenen Dokumente und Informationen beizutragen.