Ursprünglich hatte Titia Vuyk nur um Informationen über den Verfolgungsweg ihres Großvaters Jan Hendrik Olivier Bosdriesz während der Zeit des Nationalsozialismus gebeten. Doch bei den Recherchen im Archiv des International Tracing Service (ITS) stellte sich heraus, dass auch persönliche Gegenstände vorhanden sind. Und so machten sich zwei Generationen und fünf Familienmitglieder persönlich auf den Weg von den Niederlanden nach Bad Arolsen, um diese nach Hause zu holen.

Versunken sitzen die drei Geschwister Anske (84), Marieke (80) und Jan (76) Bosdriesz nebeneinander und schauen sich die wenigen Habseligkeiten ihres Vaters an, die aus der Effektenkammer des Konzentrationslagers Neuengamme stammen. Die Enkelgeneration Titia Vuyk und Marion Wiedemeijer blicken ihnen über die Schulter. Ein Verlobungsring, eine Taschenuhr und ein Füllfederhalter werden herumgereicht. Der Ring trägt ein Verlobungsdatum, 12. Oktober 1930. „Zwei Jahre später haben meine Großeltern geheiratet“, erzählt Titia Vuyk. Der Name Anske ist eingraviert. „Mein Großvater hat seine Frau gerne so genannt und später bekam meine Mutter diesen Namen.“

Die älteste Tochter von Jan Bosdriesz kann sich noch an die Uhr erinnern. „Am Sonntag wanderten wir in die Natur, sammelten Gräser und Pflanzen und haben diese anschließend getrocknet“, berichtet Anske Vuyk-Bosdriesz. „Ich habe die Handbewegung noch deutlich vor Augen, wie mein Vater die Uhr aus der Tasche zog.“ Er sei ein freundlicher, geradezu poetischer Mensch gewesen. Besonders gerne habe er auf seiner Geige gespielt oder Gedichte geschrieben. „Aus dem Lager Vught konnte er noch einige Gedichte herausschmuggeln, die später in einem kleinen Band veröffentlicht wurden.“

Seinen Lebensunterhalt hatte Jan Bosdriesz als Lehrer verdient. Zum Verhängnis wurde ihm seine christlich-pazifistische Einstellung. Er verbreitete eine Petition gegen den Krieg, die zugleich dazu aufrief, den Verfolgten zu helfen. „Ich erinnere mich an den Moment der Verhaftung. Ich war damals neun Jahre alt“, berichtet Anske Vuyk-Bosdriesz. „Er rief noch zum Balkon hoch: ´Bis heute Nachmittag. Ich kläre das`.“ Marieke Wiedemeijer war fünf Jahre alt, als ihr Vater verschleppt wurde. Sie erinnert sich: „Es war schrecklich. Meine Mutter hat geweint.“ Dem ersten Dokument im Archiv des ITS zufolge wurde Jan Hendrik Olivier Bosdriesz am 23. Oktober 1942 aus Amsterdam in das Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort eingeliefert. „Erst als alle Menschen bei der Erwähnung seines Namens um mich herum still wurden und ernste Gesichter bekamen, habe ich die Lage begriffen“, erzählt die älteste Tochter.

Am 13. Januar 1943 erfolgte die Deportation in das Konzentrationslager Herzogenbusch-Vught. Von hier aus führte der Verfolgungsweg nach Sachsenhausen und anschließend im Oktober 1944 weiter in das Konzentrationslager Neuengamme. Im Außenlager Meppen-Versen musste der damals 43-Jährige schwerste körperliche Arbeit beim Bau von Verteidigungswällen verrichten. Am 25. März 1945 ließ die SS das Außenlager räumen. Jan Bosdriesz kam ins Auffanglager Sandbostel. Kurz nach der Befreiung starb er am 20. Mai 1945 an den Folgen der KZ-Haft und wurde in Rotenburg bei Hannover beerdigt.

Schlimm sei für die Familie die Zeit der Unsicherheit nach dem Ende des Krieges gewesen, berichtet Anske Vuyk-Bosdriesz. „Erst hatte uns ein englischer Offizier geschrieben, mein Vater habe überlebt. Am 21. Mai 1945 haben wir ihm daraufhin noch einen Brief geschrieben. Doch dieser hat ihn nie erreicht. Am Tag zuvor war er gestorben.“ Marieke Wiedemeijer ergänzt: „Nach dem Krieg habe ich mir oft eingebildet, dass ich meinen Vater die Straße herunterkommen sehe.“

Die Familie habe den Verstorbenen in Ehren gehalten, aber „meine Mutter hat nicht mehr viel über ihn gesprochen – höchstens über den Krieg“, so Anske Vuyk-Bosdriesz. „Die eigenen Gefühle wurden ausgeblendet.“ Viele Sachen habe die Mutter verkaufen müssen, um die Familie über die Runden zu bringen. Aber die Geige des Ehemannes habe sie nicht angerührt. „Ich habe noch darauf gespielt“, ergänzt Enkelin Titia Vuyk.

Jahrzehnte später machte sich schließlich der Jüngste der Familie Bosdriesz auf den Weg nach Deutschland, besichtigte die Verfolgungsstätten und drehte einen Film, den sich alle gemeinsam anschauten. 2016 reisten dann die Schwestern mit ihren Töchtern Titia und Marion nach Lübeck zum Parkfriedhof. Hierhin war der Leichnam von Jan Hendrik Olivier Bosdriesz am 8. April 1954 umgebettet worden. Auch davon berichtet ein Dokument im Archiv des ITS.

„In Lübeck haben wir den letzten Brief vom 21. Mai 1945 dann gemeinsam vorgelesen“, sagt Marion Wiedemeijer. „In diesem Moment ist mein Großvater lebendig geworden.“ Titia Vuyk: „Er wurde ein realer Mensch. Umso mehr, da wir jetzt seine persönlichen Sachen haben.“ Die Familie will nun in Ruhe beraten, wie die persönlichen Gegenstände künftig aufbewahrt werden. „Dies ist ein historischer Tag für uns, sehr emotional. Unfassbar, dass in einer so chaotischen Zeit noch so viel dokumentiert wurde.“

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