Es war das größte Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg: Heute vor 27 Jahren ermordeten bosnisch-serbische Soldaten mehr als 8.000 muslimische Männer und Jungen in der Nähe der Stadt Srebrenica. Die Gedenkstätte Srebrenica klärt seit Jahren Einzelschicksale der Ermordeten auf, um den Genozid zu dokumentieren. Zum 27. Jahrestag des Massakers erzählt die Organisation vor allem die Geschichten von betroffenen Frauen. Wir trafen das Team bei den Vorbereitungen für die bevorstehende Gedenkfeier.

„Im Bosnienkrieg wurden Tausende Frauen verfolgt und verschleppt. Es waren auch vor allem die überlebenden Frauen, die Gerechtigkeit für den Völkermord von Srebrenica einforderten“, erklärte Amra Begić Fazlić, stellvertretende Direktorin des Srebrenica Memorial Center, beim Besuch der Arolsen Archives vor Ort. „Dennoch erhielten ihre Geschichten bisher wenig Beachtung.“ Das unentwegte Engagement bosnischer Aktivistinnen führte auch zur Gründung der Gedenkstätte im Jahr 2000. Vor allem die „Mütter von Srebrenica“, eine Vereinigung von Frauen, die durch den Genozid vor allem Söhne, Ehemänner oder Brüder verloren haben, setzten sich dafür ein.

 

Das Srebrenica Memorial Center

… beherbergt einen Friedhof, Ausstellungen, eine Bibliothek und ein Archiv. Über 60 Mitarbeiter*innen und Freiwillige organisieren den jährlichen Gedenktag und viele weitere Aktivitäten, die das öffentliche Bewusstsein und die Erinnerung an den Völkermord vor Ort und international fördern.

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#onasrebrenica gibt Frauen eine Stimme

Um auch die Geschichten der Frauen zu erzählen und ihren Kampf für Gerechtigkeit zu würdigen, steht der 27. Jahrestag des Völkermords am 11. Juli unter einem besonderen Motto: #onasrebrenica („ihr Srebrenica“) verleiht den Frauen, Müttern, Schwestern und Töchtern von Srebrenica eine Stimme. Rund um ihre Geschichten organisiert ein großes Team mehrere Ausstellungen, Social-Media-Aktivitäten und Workshops.

 

Auch die internationale Konferenz "Srebrenica Heroines" ist Teil der Gedenkfeier 2022. (Foto: Srebrenica Memorial Center)
Für eine Ausstellung startete die Gedenkstätte einen Aufruf und sammelte zahlreiche Kopftücher von Frauen. (Foto: Srebrenica Memorial Center)

Die Kopftücher von Srebrenica

Ab dem 10. Juli zeigt die Gedenkstätte eine Ausstellung über die Rolle der Frauen im Kampf für Gerechtigkeit. Zudem stellt die Kunst-Installation „Scarves of Srebrenica“ eine außergewöhnliche Sammlung vor: Über 2000 (muslimische) Kopftücher, die von Müttern aus Srebrenica und Frauen auf der ganzen Welt gespendet wurden.

Nie wieder: Sensibilisierung für Völkermord

Bis heute werden in Bosnien neue Massengräber gefunden und weitere Opfer identifiziert. Deshalb organisieren die Gedenkstätte und ihre Partner am 27. Jahrestag des Völkermords auch eine offizielle Beerdigung für 49 neu identifizierte Opfer.  Mehr als 20.000 Teilnehmer*innen werden für die Gedenkfeier 2022 erwartet, die offiziell mit dem jährlichen Friedensmarsch am 8. Juli beginnt. Diese dreitägige Wanderung folgt demselben Waldpfad, den Tausende Verfolgte nutzten, um vor dem Völkermord zu flüchten – viele von ihnen vergeblich.

 

Seit der Eröffnung der Gedenkstätte setzen die Teilnehmenden an fast jedem Jahrestag weitere Opfer des Völkermords bei. Hunderte Menschen werden noch vermisst. (Foto: Stefano Lupi)

Oral History: Überlebende erzählen

Um Einzelschicksale zu erzählen und das Bewusstsein für den Völkermord zu schärfen, hat die Gedenkstätte auch ein umfangreiches Oral-History-Projekt gestartet: Seit drei Jahren zeichnet das Team die Berichte von Überlebenden und Zeug*innen auf. Mehr als 300 Interviews haben die Mitarbeitenden bisher geführt; einige davon über mehrere Stunden. Die Aussagen werden nun transkribiert und verschlagwortet, um sie durchsuchbar zu machen. Viele junge Freiwillige aus der ganzen Welt arbeiten an diesem und anderen Gedenkprojekten mit und erfahren dabei viel über die zerstörerische Wirkung von Fremdenhass.

Die 3. Srebrenica Youth School findet während der Gedenkfeier 2022 statt. (Foto: Srebrenica Memorial Center)
Eine bosnische Schulklasse in der Gedenkstätte. (Foto: Srebrenica Memorial Center)

Arbeit für Bildung und Forschung

Die Gedenkstätte empfängt jedes Jahr viele Schulklassen und Wissenschaftler*innen. Sie informiert über den Aufarbeitungsprozessen in Gesellschaft und Justiz, historische Narrative, Menschenrechte und den Schutz vor Völkermord. Eine Youth School bringt bei der Gedenkfeier jedes Jahr 50 junge Menschen aus der ganzen Welt zusammen, die acht Tage lang mit regionalen und globalen Expert*innen zusammenarbeiten.

»Wenn ›Nie wieder‹ mehr als ein Klischee sein soll, müssen wir junge Menschen erreichen und sie über Völkermorde informieren – auch über die Genozide vor und nach Srebrenica. Deshalb arbeiten wir mit Partnern zusammen, die ebenfalls das Ziel haben, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern.«

Amra Begić Fazlić, stellvertretende Direktorin Srebrenica Memorial Center

Zusammenarbeit für Respekt und Frieden

Mit Leugnung des Völkermordes und anderen Angriffen sieht sich die Gedenkstätte in Srebrenica immer wieder konfrontiert, sowohl vor Ort als auch in den Medien. Das erfuhren die Arolsen Archives bei einem Besuch von der Direktorin Floriane Azoulay mit ihren Kolleg*innen im April 2022 in Srebrenica. Beide Teams tauschten ihre Erfahrungen in der Erinnerungsarbeit aus und waren sich einig über die Dringlichkeit des Kampfes gegen Fake News und Rassismus. Überschattet war der Besuch von dem kurz zuvor begonnenen Krieg in der Ukraine. Die Ereignisse erinnerten viele Bosnier*innen an ihre eigenen Kriegserlebnisse und an die Bedeutung eines gemeinsamen historischen Narratives.

 

Azir Osmanović, Kurator des Srebrenica Memorial Center, zeigt Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, den Friedhof für die Opfer des Genozids.

 

 

Bewusstsein schaffen für den Genozid

Die Arolsen Archives und die Gedenkstätte Srebrenica planen nun eine Kooperation in den Bereichen Archivierung und IT / Datenspeicherung. Im Juni 2022 kam eine Delegation aus Srebrenica nach Deutschland, um vor Ort mehr über die Arbeit des internationalen Zentrums für NS-Verfolgung zu erfahren. Im Herbst 2022 organisieren die Arolsen Archives für die Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte ein Treffen mit Vertreter*innen der deutschen Politik und Zivilgesellschaft. Gemeinsam wird die Gruppe diskutieren, wie man in Deutschland mehr Bewusstsein für den Völkermord von Srebrenica schaffen und weitere Gewalttaten verhindern kann.

 

»Unser Austausch mit dem Team aus Srebrenica war sehr bewegend. Die Familiengeschichte von fast allen dort ist von dem Genozid betroffen. Das macht ihre Arbeit so persönlich. Wir würden die Gedenkstätte sehr gern mit unserem Archiv-Wissen unterstützen und dabei von ihren bewährten Strategien gegen Revisionismus und faschistische Ideologien lernen.«

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives
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