Ein Paar filigrane Ohrringe mit roten Steinen symbolisieren das große Unrecht, das Helena Poterska erlitten hat. Ihrer Tochter Christina Siegl fiel es deshalb schwer, den Umschlag mit dem Schmuck zu öffnen, den der International Tracing Service (ITS) ihr im Juni 2018 geschickt hat. „Es hat mich so ergriffen. Nie war der passende Moment.“

Helena Poterska war 16 Jahre alt und auf dem Schulweg, als die Gestapo sie im November 1941 verhaftete. Warum, das hat sie nie erfahren. Zunächst wurde sie in das Fort VII in Posen gebracht, das von der Gestapo als Gefängnis und Übergangslager geführt wurde – auch als Konzentrationslager Posen bekannt. Dann folgte Zwangsarbeit, zunächst unter halbwegs humanen Bedingungen, denn sie musste Porzellan bemalen. Nach der Deportation in das Konzentrationslager Ravensbrück als „Fabrikarbeiterin“, wie es in den KZ-Dokumenten beschönigend heißt, setzen die Nationalsozialisten sie als angeblich politischen Häftling in der Kriegsindustrie ein. Aus Ravensbrück wurde sie am 31. August 1944 in das KZ Neuengamme gebracht. Das belegen Dokumente im ITS Archiv. Helena Poterska selbst dachte, sie sei weiterhin in Ravensbrück, nun in einem anderen Außenlager. Das Leid war überall gleich groß. „Meine Mutter hat gesagt, dass sie die Schreie in den Lagern nie vergessen wird. Sie hat erzählt, dass sie in fünf verschiedenen Lagern war.“ Christina Siegl schrieb in einem Brief an den ITS: „Ein Leben lang hat meine Mutter unter diesen verlorenen Jahren, der Entführung aus dem vertrauten Familienleben in ihrer Heimat gelitten. Sicher war sie traumatisiert.“

Ihre Ohrringe haben den Weg von Posen 1941 bis zu der Tochter nur deshalb gefunden, weil die NS-Bürokratie bis zuletzt „funktionierte“. Sie wurden auf den verschiedenen Stationen ihres Verfolgungswegs bis in das KZ Neuengamme immer weitergeleitet. Die Alliierten stellten einen Teil der persönlichen Gegenstände der Neuengamme-Häftlinge nach 1945 in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein sicher. Der ITS hat die Kampagne #StolenMemory ins Leben gerufen, um möglichst viele dieser letzten rund 3.000 Effekten zurückzugeben, die im Archiv des ITS deponiert wurden. Im Rahmen dieser Recherchen fand das zuständige ITS-Team auch die Angehörigen von Helena Poterska.

Zur Zeit der Befreiung war sie 20 Jahre alt. Sie heiratete am 25. Januar 1947 Helmut Friedrich Gutleber, den sie in Salzgitter kennengelernt hatte, als sie in einem DP-Camp versorgt wurde und er in einem Lager in englischer Kriegsgefangenschaft war. Sie gingen zu Fuß nach Würzburg und beschlossen, sich dort niederzulassen. Ihre Tochter erzählt, dass es anfangs nicht leicht gewesen sei für die junge polnische Frau: „Ich kann mich erinnern, dass wir Kinder für meine Mutter einkaufen gehen mussten, bis sie sehr gut Deutsch sprechen konnte. Sie ist vorher auf viel Ablehnung gestoßen. Aber mein Vater war immer stolz auf meine Mutter, weil sie so mutig war.“

Christina Siegl wird ihrer Mutter zu einem geeigneten Zeitpunkt die Ohrringe zeigen. Die heute 94-Jährige ist dement, aber manche Erinnerungen sind noch da. „Ich kann mir die Ohrringe gut an ihr vorstellen. Sie war ein sehr hübsches Mädchen.“

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