Interview mit der Freiwilligen Ellen de Visser: „Es ist wie ein Geschenk aus der Vergangenheit“

Interview mit der Freiwilligen Ellen de Visser: „Es ist wie ein Geschenk aus der Vergangenheit“

Seit eineinhalb Jahren ist Ellen de Visser zusammen mit drei weiteren Freiwilligen in den Niederlanden intensiv auf Spurensuche für #StolenMemory. Die Angehörigen von 39 ehemaligen NS-Häftlingen, von denen Gegenstände von den Arolsen Archives aufbewahrt werden, konnte sie bereits finden. Warum sie sich so engagiert, was ihr bei der Suche hilft und was sie dabei erlebt, schildert sie im Interview.

Ellen, warum engagierst du dich so für die #StolenMemory-Suche?

Das hat einen persönlichen Hintergrund, denn mein Großvater Jan wurde im Dezember 1944 im KZ Neuengamme umgebracht. Er war im Widerstand und wurde verraten, er kam über das Durchgangslager Amersfoort nach Neuengamme, wo er starb. Meine Großmutter hat nie wieder von ihm gesprochen, auch meine anderen Verwandten nicht. Aber nach dem Tod meiner Oma fanden wir den letzten Brief, den mein Großvater aus Amersfoort an sie geschrieben hatte, kurz bevor er nach Neuengamme deportiert wurde. Sie hatte ihn immer in ihrem kleinen Hochzeitsbuch aufbewahrt, uns aber nichts davon erzählt. Es war ein sehr bewegender Brief. Als sie beerdigt wurde, sprach der Pfarrer im Trauergottesdienst auch über meinen Großvater; und er sagte, dass das ganze Dorf meine Großmutter im Krieg und danach im Stich gelassen hatte. Das fand ich so faszinierend, dass ich dachte: Ok, was weiß er, was wir nicht wissen? Und dann stellte sich heraus, dass sie mit ihm darüber gesprochen hatte, was geschehen war.

 

Ist deine Großmutter denn im Dorf geblieben?

Ja, sie blieb im Dorf, obwohl sie wusste, dass der Mann, der ihren Mann verraten hatte, auch hier leben musste. Wir haben nie herausgefunden, wer es war. Bevor mein Großvater aus seinem kleinen Dorf ins Durchgangslager Amersfoort geschickt wurde, konnte er meiner Großmutter seinen Ehering zustecken. Und sie trug diesen Ehering ihr ganzes Leben lang und schätzte ihn sehr. Es war das letzte, was sie von ihm hatte. Das im Hinterkopf habe ich sofort verstanden, welchen Wert diese Dinge für die Familien haben. Es ist das letzte, was ihre Lieben auf ihre letzte Reise mitgenommen haben. Ich kannte also den emotionalen Wert dieser Dinge. Deshalb fühlte ich mich mit der Initiative auch so sehr verbunden und ich beschloss: Ich möchte alles tun, was ich kann, um den Angehörigen diese Dinge zurückzugeben: Der Ehering meines Großvaters hat mir den emotionalen Wert von #StolenMemory-Gegenständen verdeutlicht.

 

Die persönlichen Gegenstände von Johannes van der Kraan ©Harry Cook

Die persönlichen Gegenstände von Johannes van der Kraan. Foto: Harry Cook

 

Wie hast du von der Kampagne #StolenMemory erfahren?

Ich habe angefangen, das Leben meines Großvaters zu rekonstruieren. Ich war sehr neugierig darauf, was für ein Mann er war. Was hat er während des Zweiten Weltkriegs getan? In seinem kleinen Dorf gibt es ein Denkmal für ihn. Aber warum? Wie sah sein Widerstand aus? Wer hat ihn verraten? Ich war auch neugierig zu erfahren, warum meine Großmutter geschwiegen hat. Warum wollte sie nicht über ihn sprechen? Ich traf einen der niederländischen Polizisten, die ihn verhaftet hatten. Er lag fast im Sterben und es tat ihm sehr leid für mich und er entschuldigte sich. Ich glaube, er war über 90 Jahre alt. Ich habe auch in verschiedenen Archiven gesucht. Die Arolsen Archives kannte ich von meiner Arbeit als Journalistin. Ich schreibe für die Tageszeitung Volkskrant. Und wenn man über den Krieg schreibt, stößt man automatisch auf die Arolsen Archives. In den Archiven fand ich einige Details und Dokumente über ihn, und ich beschloss, den Newsletter zu abonnieren. So erfuhr ich vom Projekt #StolenMemory.

 

Hast du dich sofort entschlossen, dich zu engagieren?

Zuerst dachte ich, okay, es ist ein Arolsen-Projekt. Dort wird recherchiert und ich kann mich nicht einbringen. Aber dann las ich ein Interview mit einer norwegischen Journalistin und sie erklärte, dass sie alle Verwandten aller norwegischen KZ-Häftlinge gefunden hatte deren Habseligkeiten bei den Arolsen Archives aufbewahrt wurden. Sie hat sie mit Hilfe des norwegischen Fernsehens gefunden. Da dachte ich mir: Ok, ich bin auch Journalistin, anscheinend kannst du deine Hilfe anbieten, was ich dann auch tat. Im November 2022 fuhr ich nach Bad Arolsen und ließ mir alle niederländischen Gegenstände zeigen. Es waren, die Gegenstände von etwa 30 niederländischen ehemaligen KZ-Häftlingen, glaube ich, und es gab auch viele unbekannte Effekten, die wahrscheinlich ebenfalls niederländische Herkunft hatten.

 

Was waren deine Erwartungen? Hättest du gedacht, dass du so viele Familien finden würden?

Am Anfang dachte ich, ok, ich werde überhaupt keinen Erfolg haben. Ich dachte, ich würde vielleicht eine oder zwei finden. Aber ich habe die Zeitung, für die ich arbeite, gefragt, ob ich die Recherche als Zeitungsprojekt durchführen kann. Obwohl ich nicht wusste, wie das Ergebnis aussehen würde, waren sie sofort begeistert und wollten die Suche unterstützen. Also gaben sie mir etwas Geld, um eine Website einzurichten und unsere Leser*innen um Hilfe zu bitten, wie es die norwegische Journalistin im Fernsehen getan hatte. Ich habe jeweils ein Porträt für die ehemaligen KZ-Insassen, für die es Effekten gab, auf die Website gestellt. Wir erhielten eine große Anzahl von Tipps. Die Leute suchen gerne, und sie helfen gerne bei der Suche. Wir haben viele Historiker*innen und ehemalige Lehrer*innen in unsere Leserschaft, und sie lieben es, zu suchen. Also schicken sie uns manchmal diesen einen kleinen Tipp, den wir brauchen, um eine Lücke in unserer Forschung zu schließen.

 

Aber die Initialrecherche machst du, richtig?

Ich wusste sofort, dass ich das nicht allein machen kann. Wir sind vier Freiwillige: Erik Dijkstra, Theo van Bemmel und René Veldhuizen. Zwei sind schon länger für Arolsen als Freiwillige tätig. Wir sind ein tolles Team. Wir helfen uns gegenseitig. Wenn einer von uns nicht weiterkommt, helfen die anderen aus. Ich bin immer noch erstaunt über den Erfolg, denn bis jetzt haben wir 39 Familien für die Effekten aus den Arolsen Archives gefunden. Durch das Projekt #StolenMemory habe ich auch herausgefunden, dass es in niederländischen Archiven immer noch Gegenstände gibt, die auf ihre Rückgabe warten. Vor 20 Jahren hatte das Rote Kreuz eine letzte Suchrunde dafür durchgeführt. Dann haben sie aufgehört, weil ihnen das Geld ausgegangen ist. Seitdem befinden sich die restlichen Gegenstände im Archiv des ehemaligen Durchgangslagers in Amersfoort.

 

Der Freiwillige Theo van Bemmel bei Recherchearbeiten im Online-Archiv der Arolsen Archives.

Der Freiwillige Theo van Bemmel bei Recherchearbeiten im Online-Archiv der Arolsen Archives. Foto: Theo van Bemmel

 

Wie schwierig ist die Recherche? Wie viel Zeit verbringst du mit dem Projekt?

Sehr viel von meiner Freizeit, wirklich. Ich meine, die Zeitung bezahlt mir natürlich etwas Zeit, aber für einige Familien brauchten wir Wochen, sogar Monate, andere findet man an nur einem Abend. Es ist 80 Jahre her und die Häftlinge selbst leben nicht mehr. Viele von ihnen waren sehr jung und kinderlos. Also muss man nach ihren Neffen und Nichten suchen, und sehr oft auch nach deren Kindern. Wir malen Stammbäume. Man muss Zeitungsarchive und alte Telefonbücher durchsuchen. Wir haben an regionale Archive geschrieben. Wir haben historische Vereine um Hilfe gebeten. Wir haben auch in den sozialen Medien gesucht. Aber jetzt wird es immer schwieriger, und wir haben immer noch nicht alle Angehörigen aufgespürt. Ich glaube, es sind insgesamt 15, die noch zurückgegeben werden müssen. Bei den Arolsen Archives sind aber nur noch ganz wenige niederländische Effekten übrig.

 

Lohnt sich die ganze Arbeit?

Ja, auf jeden Fall! Diese Dinge sind wie Geschenke aus der Vergangenheit. So sehe ich das auch: ein Geschenk aus der Vergangenheit. Wenn man all die Emotionen sieht, wenn Verwandte eine Brieftasche oder ein Bild oder eine Uhr zurückbekommen. Sie sind so dankbar für die Arbeit, die wir geleistet haben. Ich glaube, das ist für uns alle vier so befriedigend. Es ist wie der Treibstoff, der einen immer wieder anspornt, weil man sieht, wie viel es den Menschen bedeutet.

 

Die niederländischen Freiwilligen Ellen de Visser, Erik Dijkstra und Theo von Bemmel bei der Rückgabe von Effekten in der Gedenkstätte Amersfoort im September 2023. Sie werden bei ihren Recherchen zusätzlich unterstützt von René Veldhuizen (nicht auf dem Bild).

Die niederländischen Freiwilligen Ellen de Visser, Erik Dijkstra und Theo von Bemmel bei der Rückgabe von Effekten in der Gedenkstätte Amersfoort im September 2023. Sie werden bei ihren Recherchen zusätzlich unterstützt von René Veldhuizen (nicht auf dem Bild). Foto: Pauline Niks

 

Bist du immer dabei, wenn die Gegenstände zurückgegeben werden?

Ja, wenn die Angehörigen eine persönliche Übergabe wünschen, mache ich das selbst im Auftrag des Arolsen Archives, die mir die Sachen vorher zuschicken. Fast alle Angehörigen haben diesen Weg gewählt und sich gegen eine Sendung per Post entschieden. Ich vereinbare dann einen Termin in der Gedenkstätte Amersfoort oder wir treffen uns bei ihnen zu Hause.

 

39 Rückgaben, 39 Geschichten. An welche Familie erinnerst du dich besonders?

Es gibt so viele bewegende Geschichten… Ich fand Suche nach den Angehörigen für ein Bild mit vier Kindern darauf sehr berührend. Wir kannten den Namen des Besitzers nicht, aber wir fanden heraus, dass es Klaas de Raad gehört haben muss, einem Mitglied des Widerstands. Wir haben seinen Sohn Freek gefunden, der jetzt 89 Jahre alt ist. Als wir ihm das Bild gaben, weinte er und sagte: „Schaut, schaut, der Junge links auf dem Bild, das bin ich! Die Vorstellung, dass sein Vater sein Bild im Zug von Amersfoort nach Neuengamme bei sich hatte… wie er das Bild seiner vier Kinder angesehen haben muss, war so emotional für ihn. Er erinnerte sich sehr gut an seinen Vater, und er erinnerte sich auch an den Tag, an dem ihm mitgeteilt wurde, dass sein Vater gestorben war. Und das alles kam durch das Bild wieder zurück.

 

Die Söhne des niederländischen Widerstandskämpfers Klaas de Raad bei der Rückgabe seiner Habseligkeiten. Mit dabei: ein Foto, dass sie selbst zeigt. Im Hintergrund der Freiwillige René Veldhuizen.

Die Söhne des niederländischen Widerstandskämpfers Klaas de Raad bei der Rückgabe seiner Habseligkeiten. Mit dabei: ein Foto, dass sie selbst zeigt. Im Hintergrund der Freiwillige René Veldhuizen. Foto: Arolsen Archives

 

Und es gibt noch eine andere schöne, aber seltsame Geschichte. Wir hatten eine Brieftasche und eine Arbeitserlaubnis von einem jungen Mann, Johannes van der Kraan. Ich fing an zu suchen und fand heraus, dass er in Loenen, in den Niederlanden, auf einem Ehrenfriedhof lag. Er starb nach dem Krieg in einem britischen Krankenhaus und wurde in die Niederlande umgebettet. Auf der Website der Kriegsgräberfürsorge fand ich eine Akte mit Korrespondenz mit seinem Vater. Aber es schien, dass der Vater seine Familie nicht über die Beisetzung informierte. Keiner wusste von dem Grab. Wir fanden seine Nichte Maria. Sie vermutete, dass er seiner Frau und seinen Kindern den Kummer ersparen wollte. Aber sie erinnerte sich daran, dass ihr Großvater oft mit dem Fahrrad nach Loenen fuhr, aber niemand wusste, warum. Jetzt wissen wir es: Er ist dorthin geradelt, um das Grab seines Sohnes zu besuchen. Wir sind mit seiner Nichte ebenfalls nach Loenen gefahren, und sie hat weiße Rosen mitgebracht, um sie auf das Grab zu legen. Dort musste sich daran denken, wie ihr Großvater allein am Grab seines Sohnes gestanden haben muss stand, wie er den Schmerz nicht teilen konnte. Das ist die Geschichte, die eine alte Brieftasche und eine Arbeitserlaubnis erzählen kann.

 

Maria van Loon, Nichte von Johannes van der Kraan, an seinem Grab in Loenen. ©Harry Cook

Maria van Loon, Nichte von Johannes van der Kraan, an seinem Grab in Loenen. Foto: Harry Cook

 

Du bist also nicht allein mit deiner Geschichte, dass Angehörige nicht über den Schmerz und den Verlust nach dem Krieg sprechen…

Ja, wir haben Angehörige gefunden, die nicht einmal wussten, dass ihr Vater oder Großvater in einem Konzentrationslager interniert war. Nach dem Krieg hat niemand über die NS-Zeit gesprochen. Es gab zum Beispiel eine Tochter, die mir sagte: Wenn ich nur gewusst hätte, was mein Vater erlebt hat, hätte ich ihm helfen können. Aber er erzählte nichts, weil es zu schmerzhaft für ihn gewesen wäre. Stattdessen erzählte die Uhr, die wir der Familie übergaben seine Geschichte. Ein weiteres Beispiel: Der Enkel eines Mannes, der im Widerstand war, sagte mir nach der Übergabe seiner Brieftasche später in einem Telefonat: ‚Die Brieftasche ist ein hässliches Ding, aber sie war eines der letzten Dinge, die er in den Händen hatte, und sie hat deshalb einen Ehrenplatz in meinem Wohnzimmer bekommen.‘ Für viele Menschen haben die Gegenstände wirklich einen so hohen Wert.

 

Die Habseligkeiten von Maarten Vrolijk kehren zurück in die Gedenkstätte Amersfoort. Seine Nichte überreicht sie an Floris van Dijk, dem dortigen Forschungsleiter. Maarten war studentischer Widerstandskämpfer. Er starb im Alter von 22 Jahren im Lager Sandbostel. Es gibt kein Grab, das an seinen Tod erinnert. Für Maartens Familie fühlte sich die Übergabe an, wie eine verspätete Trauerfeier. Im Hintergrund des Fotos: die Freiwilligen Ellen de Visser und René Veldhuizen (Mitte). Foto: Gedenkstätte Amersfoort 

 

Sind alle Angehörigen, sind junge Menschen in den Niederlanden interessiert an der NS- Vergangenheit?

Ich glaube, es gibt ein wachsendes Interesse an der NS-Geschichte und der Vergangenheit. Die Überlebenden haben selbst nicht darüber gesprochen. Und jetzt wollen ihre Kinder und Enkelkinder, so wie ich, herausfinden, was passiert ist. Wenn ich die Archive besuche, was ich im Rahmen des Projekts häufig tue, sehe ich, dass sie voll sind. Wenn ich Termine für die Rückgabe von Gegenständen vereinbare, kommen viele Enkelkinder und stellen viele, viele Fragen.

 

Glaubst du, dass ihr alle Familien finden werdet?

Ich denke, bei den Effekten aus Bad Arolsen werden wir sehr nahe dran sein. Aber bei den Gegenständen aus den niederländischen Archiven in Amersfoort wird es schwierig werden. Es handelt sich um zwei Kisten mit Umschlägen, die handschriftliche Vermerke haben. Manchmal können wir nicht mal die Buchstaben entziffern. Wir haben vier Eheringe mit Inschriften, aber wir kennen die Besitzer nicht. Wir haben alles getan, um sie zu finden. Aber es ist uns nicht gelungen. Ich fürchte, manche Gegenstände werden nie in die Familien zurückkehren. Aber ich denke, wenn wir wissen, dass wir wirklich alles getan haben, um die Angehörigen zu finden, ist es am Ende gut.

 

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