75 Jahre nach der Befreiung bewahren die Arolsen Archives immer noch die persönlichen Gegenstände einiger Norweger auf, die ihnen bei der Verhaftung abgenommen worden waren.
Ihre Schicksale haben die Geschichtsjournalistin Gøril Grov Sørdal nicht losgelassen. Sie machte sich mit ihrem Team auf die Suche nach Verwandten der früheren Häftlinge - und fand nach intensiver Recherche über 20 Familien, denen sie die Erinnerungsstücke nun zurückgeben kann.
Heute setzt die Institution verstärkt auf freiwillige Helfer mit Sprach- und Landeskenntnissen, die vor Ort recherchieren und nach den Angehörigen suchen - mit großem Erfolg: Dank der Unterstützung der Freiwilligen konnten in den letzten Jahren Hunderte persönliche Gegenstände an die Nachkommen früherer KZ-Häftlinge übergeben werden.
Die Effekten der norwegischen Häftlinge kommen ausschließlich aus dem Konzentrationslager Neuengamme. Kurz vor Ende des Krieges versammelte das schwedische Rote Kreuz dort skandinavische Häftlinge aus verschiedenen Lagern, um sie vor den Kampfhandlungen zu schützen und in ihre Heimatländer zurückzubringen. Es handelt sich um eine kleine Sammlung mit den persönlichen Gegenständen von rund 30 Häftlingen.
Sie alle wussten von der Haftzeit ihrer Familienmitglieder im Konzentrationslager. Aber niemand hätte gedacht, dass sie dort etwas zurückgelassen haben...
Gøril Grov Sørdal ,
Gøril Grov Sørdal arbeitet als Journalistin bei NRK, der größten öffentlichen Rundfunkanstalt in Norwegen. Nachdem sie erfahren hatte, dass bei den Arolsen Archives noch persönliche Gegenstände ehemaliger norwegischer KZ-Häftlinge aufbewahrt werden, ging sie auf Spurensuche. Mit viel Geduld, guten Ideen und intensiver Recherche fanden Gøril und ihr Team mehr als 20 Familien in Norwegen, die nun die Sachen ihrer Verwandten zurückbekommen. Wir sprachen mit der Journalistin über ihre Erfahrungen bei diesem Spezialeinsatz.
Gøril, warum hast du es dir zur Aufgabe gemacht, die Effekten zurückzubringen?
Wir haben die Arolsen Archives 2019 besucht, weil wir über die Herkunft eines Estländers recherchierten, der während des Zweiten Weltkriegs in Norwegen gelandet war und dort kurz zuvor gestorben war. Das war für eine Folge unserer Doku-Serie „Erben gesucht“, in der wir nach Verwandten von Menschen suchen, die verstorben sind und eine Erbschaft hinterlassen haben. Während unserer Dreharbeiten im Archiv waren wir nicht nur über die Fülle an Informationen über norwegische NS-Opfer erstaunt, sondern erfuhren auch von den 29 Effekten der KZ-Häftlinge aus Norwegen, die dort aufbewahrt werden. Es war so faszinierend, all diese Sachen in den Händen zu halten – ich hatte keine Ahnung, dass es eine solche Sammlung gibt! Dass ich die Verwandten dieser Menschen finden will, wusste ich direkt in diesem Moment. Schließlich hatten wir dank „Erben gesucht“ auch schon das nötige Fachwissen und die richtigen Tools für die Ahnenforschung.
Video: Gøril und ihr Team zu Besuch bei den Arolsen Archives
Wie bist du bei der Suche nach den Familien vorgegangen? Welche Quellen und Archive hast du genutzt?
Das meiste war Internetrecherche über Google. Unsere Nationalarchive waren auch eine wichtige Anlaufstelle. Ich habe auch Zeitungen und Todesanzeigen durchsucht. Immer wenn ich nicht weiterkam, konnte ich einen professionellen Rechercheur einschalten, der für unsere Serie arbeitet. Er hat Zugang zu besonderen Datenbanken, zum Beispiel zu einem Staatsregister aller norwegischen Bürger. Oft war es auch hilfreich, die Dokumente über die Häftlinge im Online-Archiv der Arolsen Archives durchzusehen. Einige davon gaben uns wichtige Hinweise über Variationen von Namen, über die Eltern und Ehepartner oder auch Adressen in Norwegen. Immer wenn wir potenzielle Angehörige gefunden hatten, habe ich sie direkt kontaktiert und gefragt, ob sie mit der betroffenen Person verwandt seien. Die meisten waren ein Treffer!
Wie haben die Leute auf deine Nachricht über die Effekten reagiert?
Alle waren sehr überrascht, manchmal sogar schockiert, aber im positiven Sinne. Sie alle wussten von der Haftzeit ihrer Familienmitglieder im Konzentrationslager. Aber niemand hätte jemals gedacht, dass sie dort etwas zurückgelassen haben, geschweige denn, dass diese Dinge in einem Archiv für sie aufbewahrt werden. Es gab auch viele Tränen. Das alles brachte alte Erinnerungen und Geschichten zurück. Viele der Menschen wollten unbedingt teilen, was sie über das Schicksal ihres Verwandten im Nationalsozialismus wussten. Sieben der Familien habe ich persönlich getroffen, um ihnen die Gegenstände zurückzugeben. Diese Treffen waren sehr intensiv und emotional.
Gøril überreichte dem Enkel von Egil Hjelde einen Ring seines Großvaters. Sie nahm auch einige Kopien der KZ-Dokumente über Egil bei den Arolsen Archives mit, um mehr zu seiner Inhaftierung zu erklären.
Gab es eine Geschichte, die dich besonders berührt hat?
Der Verlobungsring von Sophus Hansen.
Hast du gute Tipps und Tricks für andere Freiwillige, die helfen wollen, Effekten zurückzugeben?
Ein Ring und seine Geschichte
Thorvald Michelsen war 28 Jahre alt, als die Gestapo im Oktober 1943 das Haus seiner Familie in Trondheim stürmte, um ihn zu verhaften. Thorvald, seine Frau Gunvor und ihr einjähriger Sohn Bjørn wohnten oben im ersten Stock. Unten lebten Thorvalds Eltern mit Tore, seinem Neffen. 77 Jahre später trifft die norwegische Journalistin Gøril Grov Sørdal Tore und die drei Kinder von Thorvald an diesem Haus wieder.
Von links nach rechts: Thorvalds Kinder Toril, Rolf und Bjørn, ihr Cousin Tore und die Journalistin Gøril.
Hier erzählt Tore seine Erinnerungen an Thorvalds Verhaftung. Er selbst war damals sechs Jahre alt: „Ich saß gerade mit meinem Großvater beim Frühstück, als die Gestapo-Männer durchs Haus liefen und die Treppe hochstürmten, um Onkel Thorvald zu holen.“ Die Gestapo fand im Haus auch einen Freund von Thorvald aus dem Widerstand, Kolbjørn Wiggen, der sich dort versteckt hatte. Wiggen und acht weitere Widerstandskämpfer wurden einen Monat später hingerichtet. Thorvald und einige andere wurden deportiert, um in Deutschland Zwangsarbeit zu leisten.
Den Ehering musste er abgeben
Thorvald hatte im Widerstand unter anderem eine Untergrundzeitung verteilt. „Als die Gestapo das Haus verlassen hatte, rannte meine Großmutter nach oben, sammelte alles ein, was ihn hätten belasten können, versteckte die Papiere unter ihrer Kleidung und verließ das Haus, um sie loszuwerden“, erzählt Tore.
Mit rund 60 anderen Norwegern kam Thorvald ins KZ Natzweiler, in dem viele Skandinavier festgehalten wurden. Er war dort fast ein Jahr lang inhaftiert und musste in einem Steinbruch arbeiten. Bei der Einlieferung musste Thorvald seinen Ehering abgeben, in den der Name seiner Frau eingraviert war. Die Arolsen Archives bewahrten ihn bis vor kurzem auf.
Befreit vom Roten Kreuz
Im September 1944 kam Thorvald ins KZ Dachau. Dort wurde er im Frühjahr 1945 mit anderen skandinavischen Häftlingen im Rahmen der Rettungsaktion der „Weißen Busse“ vom schwedischen Roten Kreuz befreit.
Sie kamen zunächst mit Häftlingen aus vielen anderen Konzentrationslagern in das eigens für dänische und norwegische Staatsbürger eingerichtetes Sammellager im KZ Neuengamme beim Hamburg. Thorvald wurde von dort über Dänemark nach Schweden in ein Sanatorium gebracht, wo er sich erholen konnte. Am 27. Mai 1945 kehrte er mit dem Zug in seine Heimat zurück.
Seine Häftlingsnummern aus den drei Konzentrationslagern hat er in ein Album geklebt und aufbewahrt (Foto links).
Der alte und der neue Ring
Thorvald und Gunvor lebten weiter in Trondheim, wo Thorvald auch politisch in der norwegischen Arbeiterpartei aktiv war. Ihre Tochter Toril kam ein Jahr nach seiner Rückkehr zur Welt, der jüngste Sohn Rolf wurde 1952 geboren. Gunvor starb 1992. Thorvald wurde noch 93 Jahre alt und starb im Jahr 2008.
Seinen Ehering hatte Thorvald sich nach seiner Rückkehr aus Deutschland nachmachen lassen. Niemand vermutete, dass das Original noch existieren würde.
Bei der Übergabe des „alten neuen“ Rings mit Gøril zeigen die drei Geschwister viele Fotos und Erinnerungen an ihre Eltern. Sie erzählen auch, was sie später über die Verhaftung ihres Vaters und seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern erfahren haben. Das war zunächst einmal wenig.
Er erzählt seine Geschichte erst 40 Jahre später
„Unser Vater sprach lange Zeit fast gar nicht über die Haft in Deutschland“, sagt sein ältester Sohn Bjørn. Erst nachdem sein Mithäftling und Bekannter Trygve Bratteli – in den 70er Jahren Norwegens Premierminister – 1980 den Bestseller Gefangener in Nacht und Nebel über seine Zeit als Häftling veröffentlicht hatte, erzählte auch Thorvald mehr über seine Erfahrungen.
Er beschrieb nicht nur seinen Kindern, was die Erlebnisse im Konzentrationslager für ihn bedeuteten, sondern gab sogar einige Interviews – so wie auch viele andere der früheren Häftlinge aus Norwegen zu dieser Zeit. In einem davon erzählte er von einer Szene im KZ Natzweiler, die auch der norwegische Illustrator Rudolf Næss, ein Mithäftling, in einer Zeichnung sehr eindrucksvoll festgehalten hat:
„Am 26. Dezember wurden bei der Rückkehr aus dem Steinbruch zwei Gefangene vermisst. Sie wurden schnell gefunden, verprügelt und gehängt. Der Galgen war von überall im Lager sichtbar, und wir mussten alle an den beiden Männern vorbeimarschieren und sie ansehen. Sie waren wie Wachspuppen, es war kaum zu glauben, dass sie jemals am Leben waren.“