„Jugendlichen zeigen, was Geschichte mit ihnen zu tun hat“

„Jugendlichen zeigen, was Geschichte mit ihnen zu tun hat“

Interview mit Birthe Pater, Leiterin Bildung bei den Arolsen Archives, zum neuen Bildungshub „und heute?“

Frau Pater, was erwartet mich auf der neuen Plattform der Arolsen Archives?

Der Bildungshub „und heute?“ ist ein zukunftsgerichtetes außerschulisches Angebot der historisch-politischen Bildung für Jugendliche, die in einer digitalen Welt aufwachsen. Auf unserer Plattform veröffentlichen wir nach und nach verschiedene digitale, explorative Lernmodule, sogenannte Minigames, die sich mit NS-Geschichte beschäftigen und gleichzeitig Fragen zu Ausgrenzung und Teilhabe seit 1945 behandeln.

 

Was ist das Besondere an dem Lernangebot?

Mit „und heute?“ haben wir einen neuen Typ Bildungsangebot geschaffen, der die Gegenwart zum Ausgangspunkt nimmt und den Anforderungen an das Lernen in einer digitalen Welt gerecht wird. Durch das Einbeziehen historischer Perspektiven möchten wir jungen Menschen ermöglichen, das Heute besser zu verstehen.

 

Lernen in einer digitalen Welt

 

Welche Anforderungen sind das?

Die Digitalisierung hat neue Inhalte und Formate hervorgebracht, aber auch das Tempo erhöht. Der Alltag von Jugendlichen ist durch Ungewissheiten und Unsicherheiten geprägt, er ist komplexer und schnelllebiger geworden. Dem muss sich die historisch-politische Bildung stellen, indem sie Angebote entwickelt, die jungen Menschen Orientierung bieten, ihnen Handlungsoptionen und Mitwirkungsmöglichkeiten aufzeigen.

 

Was war Ihnen bei der Konzeption besonders wichtig?

Wir haben das Augenmerk auf vier Aspekte gelegt: Das Angebot sollte die Ansprüche der Digitalisierung aufnehmen und Jugendliche dabei unterstützen, sich in der digitalen Welt kompetent und reflektiert zu bewegen ─ letztlich Medienkompetenz zu entwickeln. Zweitens haben wir von Anfang an auf Partizipation gesetzt. Wir haben Jugendliche einbezogen und ihnen eine altersgerechte Mitverantwortung bei der Gestaltung und Planung übertragen. Drittens haben wir multimediale Formate entwickelt, die bei den Interessen der Schüler ansetzen, ihre Lernmotivation fördern und sie einladen, individuell und interessengeleitet zu lernen. Der vierte Baustein ist der Gegenwartsbezug. Die Themen der Minigames docken an die Lebenswelt der jungen Menschen an.

 

Warum sprechen Sie von einem „Bildungshub“?

Der englische Begriff „hub“ bezeichnet einen Knotenpunkt, einen zentralen Ort, an dem Dinge zusammenlaufen. Das trifft in mehrfacher Hinsicht auf unsere Plattform zu. Bei „und heute?“ werden z.B. verschiedene Themen miteinander verschränkt, historische und gegenwärtige. Außerdem kommen unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen zusammen: Die Sicht der Nutzer*innen ─ junge Lernende, Lehrkräfte, Multiplikator*innen. Der Input der Projektbeteiligten, z. B. Journalist*innen, Game-Entwickler*innen, Aktivist*innen und Kreative. Und die Perspektive der Menschen, die verschiedene Formen von Ausgrenzung erfahren und darüber sprechen. In unseren Kooperationen wird die Expertise von Bildungsträgern wie Gedenkstätten, Schulen und Wissenschaft gebündelt.

 

Für wen ist die Plattform gedacht?

Unser Bildungsangebot kann niederschwellig ab der 9. Klasse und vertiefend bis in den Leistungskurs eingesetzt werden. Es spricht junge Lernende ab 15 an, bietet aber auch Studierenden bis etwa 25 Jahre noch Lernanreize. Die Minigames funktionieren fächerübergreifend. Sie sind nicht nur für den Geschichtsunterricht konzipiert, sondern eignen sich auch für Fächer wie Ethik oder Kunst. Ich brauche lediglich ein internetfähiges Gerät, z.B. einen PC oder ein Tablet, einen aktuellen Browser und eine Internetverbindung.

 

Studie zu Gen Z als Ausgangspunkt

 

Wie ist das Angebot entstanden?

Ausgangspunkt für unsere Überlegungen war die Studie der Arolsen Archives „Wie steht die Gen Z zur NS-Zeit?“. Dabei kam heraus, dass sich die Generation der 16- bis 25-Jährigen mehr als ihre Eltern für die NS-Zeit interessiert. Sie hat auch gezeigt, dass Jugendliche Geschichte mit heutigen Problemen wie Rassismus, Diskriminierung und Antisemitismus verbinden.

Auf dieser Basis haben wir ein interdisziplinäres „Entwicklerteam“ aus Bildungsreferent*innen zusammengestellt und sind auf Schulen zugegangen. „und heute?“ wurde und wird konsequent zusammen mit Jugendlichen entwickelt, von der Themen- und Formatfindung bis zur Mechanik der Minigames.

Ein Beispiel: Es hat uns sehr geholfen zu beobachten, welche Fragen von den Jugendlichen gestellt werden. Was ist ihnen unklar? Absolut beeindruckend fand ich, wie schnell die Jugendlichen Bezüge zur Gegenwart hergestellt und Widersprüche aufgedeckt haben. In der ersten Phase der Entwicklung war der russische Überfall auf die Ukraine sehr präsent. Die Schüler*innen haben das sofort thematisiert und beispielsweise diskutiert, wie wichtig es einerseits ist, die Kriegsgräuel zu dokumentieren, wie problematisch es aber auch sein kann, wenn sich diese Aufnahmen massenhaft im Internet verbreiten. Anhand solcher Diskussionen haben wir geschaut: Was brauchen die Jugendlichen, um ihren Wertekompass zu entwickeln?

 

Wie wird die Plattform weiterentwickelt?

Wir verstehen unser Angebot als iterativ und nachhaltig. Das bedeutet zum einen, dass wir die schon bestehenden Angebote evaluieren und überarbeiten. Dafür gibt es eine Begleitforschung und verschiedene Workshops. In unserer offenen Sprechstunde bitten wir Lehrkräfte um Rückmeldung. Zum anderen wird das Angebot laufend, auch in Kooperationsprojekten, erweitert.

 

Die „Tricks des Digitalen“ nutzen

 

Auf welchen Leitgedanken basiert das pädagogische Konzept?

Den Rahmen bildet der Beutelsbacher Konsens. Unser Anliegen ist es, historische Zusammenhänge aufzuzeigen und die Kompetenzen der Jugendlichen zu fördern, die sie brauchen, um an demokratischen Prozessen teilzuhaben. Dazu bieten wir ihnen einen bewertungsfreien Raum. Darin können sie Widersprüche und Brüche wahrnehmen und kontroverse Themen unvoreingenommen reflektieren, um ihre eigene Werteorientierung zu entwickeln. Elemente wie Dialogboxen, mit denen anonyme Meinungsumfragen durchgeführt werden können, fördern die Diskussion und den Austausch untereinander.

 

Birthe Pater

»Wir nutzen also die Tricks des Digitalen, um den jungen Menschen ein immersives Lernerlebnis zu verschaffen. Das bedeutet, dass nicht nur kognitives, sondern auch intuitives, empathisches Lernen gefördert wird. Wir wollen Jugendlichen zeigen, was Geschichte mit ihnen zu tun hat.«

Birthe Pater, Leiterin Bildung bei den Arolsen Archives

 

Wie ist das Feedback von Schüler*innen und Lehrkräften?

Die Schüler*innen finden es spannend, an der Entwicklung von „und heute?“ mitzuwirken. Lehrkräfte schätzen vor allem, dass sie ein fertiges Produkt bekommen, das sie sofort und flexibel einsetzen können, ohne sich lange einlesen zu müssen. Von ihnen wird ja verlangt, dass sie vermehrt gesellschaftliche Ereignisse im Unterricht thematisieren. Das ist mit „und heute?“ unkompliziert möglich, sogar in Vertretungsstunden. Man braucht keine ganze Projektwoche, um die Angebote zu nutzen. Außerdem finden die Lehrkräfte gut, dass sie nicht allein gelassen werden. Sie können in unserer offenen Sprechstunde Fragen stellen, an unseren Fortbildungen teilnehmen und sich untereinander vernetzen.

 

Wie können Schulen und Bildungseinrichtungen Kooperationspartner werden?

Schulen, die Interesse haben, mit uns zu kooperieren, melden sich am besten per E-Mail oder nehmen an der offenen Sprechstunde teil. Unabhängig davon können sie „und heute?“ aber natürlich auch so kostenfrei nutzen.

 

Sind schon neue Module in Arbeit?

Ja, gerade arbeiten wir an einem interaktiven Modul zu Dokumenten, die in den Arolsen Archives aufbewahrt werden. Es bleibt also spannend.

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