Aharon Leshno-Yaar war 2004 und 2014 Vorsitzender des Internationalen Ausschusses, dem obersten Leitungsgremium des International Tracing Service (ITS). Er hat den ITS in der spannenden Phase der Archivöffnung begleitet. Seit 2016 ist Aharon Leshno-Yaar israelischer Botschafter bei der Europäischen Union und der Nato.

Welche Schwierigkeiten standen der Öffnung des Archivs im Weg?

In meinem allerersten Jahr, als ich mit dem ITS zu tun hatte, war das Hauptthema bei der Jahrestagung in Jerusalem die Aufforderung vieler Mitgliedstaaten und Experten, das Archiv zu öffnen. Soweit ich mich erinnern kann, kam der Widerstand gegen die Öffnung des Archivs von der damaligen Verwaltung und einem Mitgliedstaat mit Blick auf Fragen des Persönlichkeitsschutzes. Demgegenüber standen starke Argumente von Forschern, Historikern und für den allgemeinen Nutzen der Öffentlichkeit, darunter die Überlebenden. Mit Unterstützung der meisten Mitgliedstaaten und ohne Widerstand wurde beschlossen, sich in Richtung Öffnung des Archivs zu bewegen. Die Entscheidung wurde von den israelischen Medien mit großem Beifall aufgenommen und fand viel Beachtung. Die Nachricht über die Öffnung des Archivs wiederum ermutigte viele Israelis, nach Daten über Familienangehörige zu suchen.

Warum war die Öffnung so wichtig für die Überlebenden, aber auch für die Angehörigen?

Die Dokumente im Archiv enthalten Angaben zu den Opfern während der Kriegsjahre, aber auch in der Nachkriegszeit. Eine persönliche Bemerkung: Im ITS-Archiv wurden zwar keine Dokumente über meine Familienangehörigen gefunden, die im Holocaust umgekommen sind. Doch ich erhielt einige wichtige Dokumente über meinen Vater aus den Nachkriegsjahren. Sie gaben mir eine klarere Vorstellung und wichtige Details über seine Aufenthaltsorte in Europa, sogar nach seiner Einwanderung nach Israel, und auch über andere Familienangehörige. Diese Daten halfen mir, mehr Verwandte zu finden, die jetzt in anderen Ländern leben. Es ist wichtig im Blick zu behalten, dass Überlebende oft keine Informationen über die Kriegsjahre mit ihren neuen Familien teilten. Die ITS-Dokumente sind eine Quelle von unschätzbarem Wert, um mehr über NS-Verfolgte zu erfahren.

Warum sind Dokumente der Nazi-Bürokratie wie die Transportlisten, Häftlingskarten, Aufstellungen über Zwangsarbeiter sowie die Dokumente der Alliierten über Displaced Persons heute wichtig – auch vor dem Hintergrund des aufflammenden Nationalismus in vielen Ländern?

Ich glaube, dass wir uns immer wieder fragen müssen: „Haben wir die Lehren aus dem Holocaust gezogen?“ und bleiben wir dem Slogan „Nie wieder“ wirklich treu. Tatsächlich ist diese Frage heute aktueller denn je. Die Lektüre des Buchs „Tiergarten – In the Garden of Beasts“ von Erik Larson zeigt, wie unschuldige und naive Menschen den Aufstieg des Naziregimes und seine Gräueltaten beobachteten und schwiegen. Der Unterschied besteht darin, dass wir heute die Lehren aus dem Holocaust sowie die Technologie haben und nicht behaupten können, wir hätten es nicht gewusst oder uns nicht vorstellen können. Längst sind sowohl die heute begangenen Gräueltaten als auch die Gleichgültigkeit vieler Menschen sowie die Zunahme von Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Populismus in Europa alarmierend. Der ITS spielt eine wichtige Rolle bei der Erinnerung und Aufklärung der Menschen in Europa über unsere Werte und Verantwortlichkeiten.

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