„Ich wusste nicht, dass sie existiert und dass mein Opa so eine große Familie hatte.“ Bis vor Kurzem wusste Patrick May nichts von seiner Großcousine Catherine Guebey-Robert. Im Juni 2023 trafen sich der US-Amerikaner und die Französin zum ersten Mal – zusammengeführt durch eine Recherche der Arolsen Archives zu Patricks Großvater Walter Senft.

Patrick und Catherine sind mit ihren Angehörigen nach Bad Arolsen gereist, um den Ehering von Walter persönlich entgegenzunehmen. Die Nationalsozialisten nahmen ihm den Ring weg, als sie ihn im April 1940 ins Konzentrationslager Dachau einlieferten.

Schreibstubenkarte zu Walter aus dem Konzentrationslager Dachau

Offizielle Anerkennung als Opfer des NS-Regimes

Bereits 1936 musste er 12 Monate lang Arbeitsdienst in Dachau leisten. 1940 nahm die Kriminalpolizei ihn wegen Diebstahl und Betrug als „Berufsverbrecher und Asozialer“ in sogenannte Vorbeugungshaft. Als Berufsverbrecher wurden allgemein Häftlinge geführt, die eine längere oder mehrere Vorstrafen verbüßt hatten. Dabei spielte die Art oder die Schwere der Straftat keine Rolle. Von September 1940 bis zur Befreiung war Walter Senft im Konzentrationslager Neuengamme inhaftiert. 1977 stellte er einen Antrag auf Wiedergutmachung der erlittenen KZ-Haft. Erst 2020 erkannte der Deutsche Bundestag Menschen wie Walter offiziell als Opfer des NS-Regimes an.

 

 

Mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren und sich nun besser kennenzulernen, ist für Patrick, Catherine und ihre Familien eine besonders emotionale Erfahrung. „Wir haben vor einigen Jahren parallel mit den Nachforschungen zu Walter begonnen, ohne dass wir wussten, dass es uns gibt“, erzählt Patrick.

Patrick und Catherine haben gemeinsam Walters Ring entgegengenommen.

 

Als Deutsche nach dem Krieg weiterleben

Catherine wusste nur aus Erzählungen ihrer Großmutter, dass sie einen kleinen Bruder hatte – Walter – , der angeblich während des Zweiten Weltkriegs gestorben sei, aber dass sie nie Klarheit über sein Schicksal erhalten hätten. Während des Kennenlernens fanden beide Parallelen in ihren Biografien: Catherines Großmutter Emma, Walters Schwester, verliebte sich während der Kriegsjahre in einen französischen Kriegsgefangenen, der später als ziviler Zwangsarbeiter in Deutschland bleiben musste. Als sie von ihm schwanger wurde, inhaftierten ihn die Nationalsozialisten. Nach Kriegsende lebten die beiden, mit ihrer kleinen Tochter, Catherines Mutter, in Frankreich. Dort hatte Emma einen schwierigen Start, denn als Deutsche wurde sie mit vielen Vorurteilen konfrontiert.

Familienfotos von Patrick May

 

Auch für Rosemarie, Patricks Mutter, war es schwierig die traumatisierenden Erfahrungen aus der NS-Zeit hinter sich zu lassen. Als sie 1936 geboren wurde, hatten die Nationalsozialisten ihren Vater Walter bereits im KZ Dachau inhaftiert. Zu dem Zeitpunkt waren ihre Geschwister Renate und Reinhold in einem Kinderheim in Kaiserslautern, in dem auch Rosemarie ab dem zweiten Lebensjahr aufwuchs. Erst vierzehn Jahre später durfte sie wieder mit ihrer Mutter leben und ihren Vater kennenlernen. Mit Anfang 20 heiratete sie einen amerikanischen Soldaten, der in Kaiserlautern stationiert war, und lebte fortan in den USA. Wie Catherines Mutter und Großmutter, musste sie dort mit den Vorbehalten Deutschen gegenüber leben, obwohl sie selbst Opfer der Nationalsozialisten war.

 

Transgenerationales Trauma

„Es hat lange gedauert für mich und meine Geschwister, meiner Mutter zu vergeben, weil sie nie gelernt hatte, eine Mutter zu sein. Die NS-Verfolgung meines Großvaters und dass sie deshalb im Kinderheim aufwuchs, hat sie niemals losgelassen“, beschrieb Patrick das Verhalten seiner Mutter. Die Rückgabe von Walters Ehering, bedeutet für die Familien ein Neuanfang. Sie hoffen, alte Wunden heilen zu können und das transgenerationale Trauma zu verarbeiten.

«Der Kreis unserer Familie wurde damals zerstört, vielleicht trägt die Rückgabe von Walters Ring nun dazu bei, diesen Kreis wieder zu schließen.»

Patrick May, Enkel von Walter Senft

 

Die Arolsen Archives bewahren noch rund 2.500 persönliche Besitzstücke ehemaliger KZ-Häftlinge auf. Mit der Kampagne #StolenMemory können sich Freiwillige weltweit an der Suche nach Angehörigen beteiligen.

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