Shoshana Berman überlebte zwei Diktatoren: Hitler und Stalin. Jetzt möchte die 83-jährige Israelin ihre Lebensgeschichte in einer Biografie festhalten und recherchiert dafür in Archiven. Einen Besuch der Kunstausstellung Documenta in Kassel nutzte sie für einen Abstecher zum International Tracing Service (ITS) nach Bad Arolsen. Beim ITS wird die Israelin schnell fündig. Unterlagen aus den Camps für Displaced Persons berichten vom Überleben des Holocaust, dem Warten auf die Auswanderung in Deutschland und schließlich die Emigration nach Israel. „Die genauen Daten aus den DP-Camps hatte ich nicht mehr in Erinnerung. Das ist sehr hilfreich“, sagt Shoshana Berman. Geboren wurde sie als Susanna Schmidt am 15. März 1934 im polnischen Pinsk (heute Weißrussland), einem damals bedeutenden Zentrum des Judentums. Der Ort fiel nach dem Hitler-Stalin-Pakt über die Aufteilung Polens an die Sowjets. Diese konfiszierten das Eigentum der jüdischen Familie. „Mein Großvater war ein Immobilienbesitzer und damit ein Kapitalist in den Augen der Kommunisten. Er besaß das größte Hotel in Pinsk.“ Ein Jahr lebte die Familie bei Verwandten in einem benachbarten Dorf. Dann erfolgte am 20. Juni 1941 die Verhaftung und Deportation nach Russland in die Nähe von Nowosibirsk. Die Eltern, die Schwester, zwei Tanten und die Großeltern väterlicherseits mussten mit. „Nur die Familie meiner Mutter durfte bleiben. Ich habe noch heute die Verabschiedung von meinen Großeltern am Bahnhof vor Augen.“ Besonders fasziniert betrachtet die Israelin eine Liste des World Jewish Congress von Juli 1943 im Archiv des ITS, die jüdische Flüchtlinge in Sibirien aufführt. „Woher stammen bloß diese Informationen?“, fragt sich Shoshana Berman. „Die Namen, das Alter, die Anschrift… alles stimmt. Von dieser Zeit hatte ich bisher keinerlei Spuren. Nur ein winzig kleines Foto.“ Die Zeit in Sibirien war hart, die Lebensbedingungen miserabel. „Ich kann mich noch lebhaft an alles erinnern. Es hat sich mir deutlich eingebrannt.“ Was die Familie aufrechthielt, war das Wissen, dass die Deutschen und damit die Bedrohung des Holocaust weit weg waren. 1946 konnte die Familie entsprechend den Repatriierungsvereinbarungen zwischen den Alliierten Sibirien verlassen und nach Polen zurückkehren. „Meine Mutter hat alles versucht, um ihre Eltern und ihre restliche Familie zu finden. Vergeblich. Keiner hatte überlebt.“ Vermutlich fielen sie dem Erschießungskommando der Polizei-Reiterabteilung II zum Opfer, das am 11. September 1942 die jüdischen Einwohner von Stolin, dem Wohnort der mütterlichen Familie, ermordet hatte. Die Heimat war unwiederbringlich verloren, auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Pogrome in Polen gegen die jüdischen Rückkehrer zwangen zur Flucht. Die Eltern vertrauten Shoshana und ihre Schwester der Kibbuzbewegung an, um sie in Sicherheit zu bringen. „In einer Gruppe von Kindern wanderten wir nachts 35 Kilometer. Teils kriechend und kletternd überwanden wir die Grenze von Polen in die Tschechoslowakei, während wir in der Ferne Hundegebell und Soldatenlieder hörten, bis wir uns endlich frei fühlten“, erzählt Shoshana Berman. Sie bekam extreme Bauchschmerzen, als die Kindergruppe Deutschland erreicht hatte. „In Hof musste ich allein in eine Klinik. Um mich herum wurde nur deutsch gesprochen. Ich habe mich nie wieder so einsam gefühlt.“ Den kurzen Krankenhausaufenthalt in Hof belegen die Dokumente im Archiv des ITS. „Dafür bin ich wirklich dankbar“, so Shoshana Berman. „Meine Schwester hat mich noch Jahre später damit aufgezogen, dass ich eine falsche Erinnerung hätte. Jetzt halte ich den Beweis in Händen.“ Von Hof aus ging es weiter nach Bad Reichenhall. Hier folgte der Abschied von einer Tante, die bis dahin die Kinder begleitet hatte. „Noch so ein schmerzhafter Moment.“ Jetzt waren die Teenager auf sich gestellt. Sie kamen im Rahmen der Hashomer Hatzair Jugendkibbuz-Bewegung in einem Kloster in Jordanbad nahe Biberach unter. Die Jugendlichen waren unterernährt. „Die Nonnen päppelten uns mit Bier, Gemüse und Fischfett auf. Monatelang hörten wir nichts von unseren Eltern. Wir hielten es nicht aus und hauten ab mit dem Zug nach München. Keine Ahnung, wie zwei Mädchen ohne Geld das geschafft haben.“ In München blieb die Suche nach den Eltern erfolglos und so reisten sie weiter zu ihrer Tante nach Bad Reichenhall. „Dort geschah eines dieser unerklärlichen Dinge im Leben. Nachts um ein Uhr klopfte es an der Tür. Die jüngere Schwester meiner Tante stand vor der Tür mit der Nachricht, dass meine Eltern in Landshut seien.“ Am nächsten Tag machten sich die Mädchen auf den Weg. „Es regnete in Strömen. Der ganze Boden war matschig und da standen sie. Es folgten stundenlange Umarmungen und Tränen.“ Zunächst waren die Flüchtlinge in Landshut in Zelten untergebracht, bevor sie ins DP-Camp Wasseralfingen kamen. „Im Vergleich zu Sibirien waren die Verhältnisse erträglich. Immerhin hatte ich ein eigenes Bett für mich.“ Die Teenager gingen zur Schule. „Ich nutzte die Wartezeit, um so viel wie möglich zu lernen: Sprachen, Telegrafieren, Nähen, und ich nahm Privatlektionen bei einem Professor.“ Am 29. August 1949 war es dann soweit. Die Familie erreichte Israel. „Ab jetzt hieß es weiterleben und nicht zurückschauen.“ Shoshana Berman studierte Jura und wurde Richterin. Sie bekam zwei Töchter und hat inzwischen vier Enkelkinder. „Ich habe mit ihnen nur selten über meine Kindheit und Jugend gesprochen. Doch wir sollten unsere Erfahrungen mit den nachfolgenden Generationen teilen.“
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