“Wir vermissen sie sehr! Wir wollen, dass sie nach Hause kommen.” - Interview mit Matty Dancyg

Matty Dancyg überlebte den Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 in Nir Oz, Israel. Sein Vater Alex Dancyg (75) und sein Onkel Itzik Elgerat (69) wurden bei dem Anschlag von Hamas-Terroristen entführt. Alex Dancyg, 1948 in Polen geboren, widmete sein Leben in den vergangenen Jahrzehnten als Pädagoge und Historiker dem polnisch-jüdischen/israelischen Dialog.

Der Terroranschlag

Erzählen Sie uns von Ihrer Familie und was am 7. Oktober geschah.

Ich heiße Matty Dancyg und habe früher im Kibbuz Nir Oz gelebt. Ich bin Lehrer an einer anthroposophischen Oberschule in Be’er Sheva. Ich habe eine Frau und drei kleine Töchter im Alter von zwei, sieben und acht Jahren. Wir sind eine der Familien, die das Glück hatten, das Massaker im Kibbuz Nir Oz am 7. Oktober zu überleben.

 

Matty Dancyg überlebte den Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 in Nir Oz, Israel. Im Interview spricht er über seine entführten Familienmitglieder.

Meine Familie und ich waren in einem der wenigen Häuser – vielleicht drei oder vier, in die die Terroristen nicht eingedrungen sind. Wir hatten sehr viel Glück. Mit jedem Augenblick, der an diesem Tag verging, dachte ich: Irgendwann werden sie kommen, um uns abzuschlachten und zu verbrennen, wie sie es in so vielen Häusern getan haben.

Ich wusste genau, was im Kibbuz vor sich geht. Ich wusste von all den Gräueltaten und allem, was vor sich ging, denn die Leute schrieben (auf WhatsApp, Anm. d. Red.) die ganze Zeit Nachrichten: “Bitte helft uns, bitte, sie sind in unserem Haus, sie verbrennen uns, wir sterben.”

Ich wusste das alles, und ich sah meine Töchter an. Stundenlang ging das so. Etwa acht Stunden stand ich da und zitterte, mein ganzer Körper zitterte vor Angst, weil ich wusste… Ich liebe meine Töchter so sehr. Es war einfach so schrecklich und beängstigend zu wissen, dass sie jeden Moment kommen und uns abschlachten und verbrennen können. Ich danke Gott jeden Tag, dass wir am Leben sind und dass der größte Teil meiner Familie, der im Kibbuz war, noch lebt.

 

Kibbuz Nir Oz nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 (Foto: Aviv Abergel)

 

Meine Mutter ist eine sehr tapfere 71-jährige Frau. Sie konnte zwei ihrer Enkelinnen retten, ein Kind meines großen Bruders und ein Kind meiner Schwester. Meine Schwester und ihre Familie lebten ebenfalls im Kibbuz. Sie hat vier Töchter, drei von ihnen waren mit ihr im Bunker. Die Terroristen kamen in das Haus meiner Mutter. Sie erzählte mir, dass sie die Tür des Bunkers nicht schließen konnte, aber diese wie durch ein Wunder durch eine Explosion geschlossen wurde. Der Bunker war geschlossen und sie kämpfte am anderen Ende der Bunkertür. Niemand hat mit so einem terroristischen Angriff gerechnet, deshalb haben die meisten Schutzräume im Kibbuz kein Schloss von innen. An vielen Orten gab es Kämpfe mit den Terroristen, die versuchten, in die Schutzräume einzudringen. Das war auch bei meiner Mutter der Fall.

Die Terroristen haben ihr Haus nicht angezündet, weil sie dachten, sie könnten eindringen. Sie kamen immer wieder und versuchten, die Bunkertür zu öffnen, schossen auf sie und durchlöcherten die Tür. Währenddessen lagen zwei ihrer Enkelkinder unter dem Bett. Ich weiß nicht, wie meine Mutter das geschafft hat.  Es ist ein Wunder. Sie ist eine sehr tapfere Frau.

 

Die Heimat von Matty Dancyg ist seit dem Angriff der Hamas zerstört (Foto: Aviv Abergel)

 

Der Mann meiner Mutter war auch sehr tapfer. Er versuchte, mit den Terroristen zu kämpfen und hat ein paar von ihnen getötet. Er hatte nur eine Pistole dabei. Irgendwann fingen sie an, Handgranaten ins Haus zu werfen, und zum Glück konnte er sich rechtzeitig in den Bunker retten. Sie fingen an, ihr Haus abzubrennen, und überall stieg Rauch auf. In letzter Sekunde verließen sie das Haus – und in diesem Moment kam die Armee. Wir danken Gott, dass sie noch leben.

 

Spuren des Terrors: Blutflecken zieren die angegriffenen Häuser von Familien (Foto: Aviv Abergel)

 

Vater und Onkel von der Hamas entführt

Mein Onkel Itzik Elgerat, der auch dänischer Staatsbürger ist, wurde bei dem Angriff verletzt. Wir haben Nachrichten von ihm bekommen, dass er verletzt ist. Die Terroristen haben ihn leider verschleppt. Er wurde entführt und ist in Gaza. Das wissen wir durch sein Handysignal.

Mein Vater, Alex Danzig, ist auch entführt worden. Als die Armee kam, war sein Haus leer. Wir hatten auch ein Telefonsignal von ihm in Gaza. Zwei Mitglieder meiner Familie sind entführt worden.

Wir vermissen sie sehr, wir wollen, dass sie nach Hause kommen. Wir wollen, dass all die Geiseln, alle Menschen, die brutal entführt wurden, wieder nach Hause kommen. Die Zahlen in Nir Oz sind einfach unglaublich. Wir sind nur 360 Menschen im Kibbuz, einschließlich der Kinder, und es wird geschätzt, dass etwa 100 Menschen entweder entführt oder brutal ermordet wurden. Ich spreche von kleinen Babys, teils jünger als ein Jahr, kleinen Kindern, Frauen, jungen Frauen, alten Menschen, kranken Menschen, einfach allen… Es sind mehr als 70 Menschen, die aus Nir Oz entführt wurden.

Wir versuchen alles, was wir können. Wir geben Interviews, wir machen und versuchen alles. Mein Bruder ist jetzt im Ausland, er war in Italien, in Polen, und er versucht zu helfen, so gut er kann.

 

Matty Dancyg ist enttäuscht von der Regierung Israels (Foto: Aviv Abergel)

 

Wir sind sehr enttäuscht und wütend auf die Regierung und auf die Armee. Wir haben das Gefühl, dass sie uns allein gelassen haben, um abgeschlachtet zu werden. Die Terroristen haben uns verbrannt, sie haben uns abgeschlachtet, als ob wir nichts wären, und wir fühlen uns im Stich gelassen. Ich denke, es kann kein zweites Mal passieren, wir können nicht noch einmal im Stich gelassen werden. Die Regierung muss alle zurückholen, nicht nur die Geiseln von Nir Oz – mehr als 200 Geiseln sind in Gaza. Wir waren in der Hölle und jetzt sind sie ebenfalls in der Hölle. Die Regierung kann uns nicht ein weiteres Mal im Stich lassen. Sie müssen alles tun, um uns die Geiseln nach Hause zu bringen.

Es ist ein großes Versagen der Regierung, der Armee und der Geheimdienste. Die einzige Möglichkeit, dieses Versagen auch nur ein bisschen wettzumachen, ist, alle Geiseln so schnell wie möglich zurückzubringen. Ich meine jetzt – nicht später, wenn es zu spät ist.

 

»Ich liebe meine Töchter so sehr. Es war einfach so schrecklich und beängstigend zu wissen, dass sie jeden Moment kommen und uns abschlachten und verbrennen können.«

Matty Dancyg, Überlebender des Terrorangriffs am 7. Oktober 2023

 

Leben und Werk von Alex Dancyg

Ihr Vater Alex Dancyg ist ein Holocaust-Historiker und Forscher. Können Sie uns mehr über sein Leben erzählen?

Mein Vater ist kein gewöhnlicher Mensch. Ich weiß, dass jeder Mensch genauso wichtig ist wie jeder andere, aber wenn ich von meinem Vater spreche, kann ich sagen: Er ist ein sehr gebildeter Mensch. Er weiß sehr viel und ist ein großartiger Lehrer. Er hat viele Jahre lang außergewöhnliche Arbeit im Bereich der Aufklärung über den Holocaust und der Beziehungen zwischen Juden und Polen geleistet. Er ist einer der größten Experten auf diesem Gebiet.

Das Leben von Alex Dancyg

Alex Dancyg wurde 1948 in Warschau, Polen, als Sohn jüdischer Überlebender des Holocaust geboren. Im Jahr 1957 wanderte er mit seinen Eltern nach Israel aus. 1986 gehörte er zu einer der ersten Gruppen junger Israelis, die Polen besuchten. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens damit, über den Holocaust aufzuklären und andere Pädagogen auszubilden. Bis zum Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 lebte er mit seiner Familie – darunter sein Sohn Matty Dancyg – im Kibbuz Nir Oz in Israel.

 

Der größte Teil seiner Familie wurde während des Holocausts ermordet. Seine Eltern überlebten den Holocaust. Er wurde 1948 geboren, in dem Jahr, in dem Israel gegründet wurde. Als er neun Jahre alt war, zogen sie nach Israel. Er hat Erinnerungen an eine sehr schöne Kindheit in Polen. Er kann Polnisch, liest auf Polnisch, hat ständig Kontakt zum polnischen Volk. Er hat viele polnische Freunde und ist eine angesehene Person in Polen. Die polnische Regierung hat erklärt, dass er polnischer Staatsbürger ist, und dafür sind wir ihr sehr dankbar. Wir hoffen, dass sie uns helfen wird, ihn nach Hause zu holen.

 

Alex Dancyg verbrachte den größten Teil seines Lebens damit, über den Holocaust aufzuklären und andere Pädagogen auszubilden. (Foto: Matty Dancyg)

 

Er ist ein außergewöhnlicher Mann und ein außergewöhnlicher Lehrer. Er hatte viele Schüler in ganz Israel und Polen, die ihn bewundern und sich große Sorgen um ihn machen. Wir alle wollen ihn zurückhaben. Er hat es nicht verdient, dort zu sein, wo er jetzt ist. Er lebte mehr als 50 Jahre lang an der Grenze zu Israel. Der Staat Israel wollte, dass er und wir dort an der Grenze leben. Jetzt haben sie versäumt, uns zu schützen.

Ich war erst vor ein paar Tagen im Kibbuz Nir Oz, um ein paar Dinge abzuholen. Das ist der Ort, an dem ich als Kind bis in meine Zwanziger aufgewachsen bin. Zu sehen, wie dieser Ort niedergebrannt wurde, ist sehr hart. Zu wissen, was mit vielen guten Freunden und Familien und kleinen Babys geschah, die abgeschlachtet und bei lebendigem Leib verbrannt wurden… Der Verstand ist noch immer nicht in der Lage, diese schrecklichen Ereignisse zu erfassen.

 

Ausgebrannte Häuser und Autos in der Heimat von Matty Dancyg (Foto: Aviv Abergel)

 

Stundenlang keine Hilfe

Was möchten Sie der Öffentlichkeit in Deutschland sagen? 

Ich weiß, dass der Vergleich zwischen den Ereignissen und dem Holocaust nicht ganz zutreffend ist, aber wir haben das Gefühl, dass wir in gewisser Weise einen Holocaust erlebt haben. Acht Stunden lang waren wir im Holocaust, denn wir wurden abgeschlachtet, lebendig verbrannt, und niemand war da, um uns zu helfen. Der große Unterschied ist, dass wir dachten, dass jemand kommen und uns helfen würde. Im Holocaust hatten sie diesen Luxus nicht, aber wir dachten, dass jemand kommen und uns helfen würde und dass die israelische Armee kommen und uns helfen würde – und sie kam nicht. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, und alle schrien in ihren WhatsApp-Nachrichten: „Wo ist die Armee?“ Wir waren uns sicher, dass sie in einer Stunde oder zwei Stunden kommen würde. Aber es ging acht Stunden lang so weiter. Acht Stunden lang haben uns Hunderte von Terroristen, die keine Spur von Menschlichkeit in ihren Herzen hatten, einfach abgeschlachtet und bei lebendigem Leib verbrannt.

Ich bezeichne mich als den Überlebenden des Massakers in Nir Oz, so stelle ich mich mittlerweile vor. Das Einzige, wofür ich in diesen Tagen kämpfe, ist, die Geiseln zurückzubringen. Ich bitte die deutsche Regierung, alles zu tun, um diese Menschen, die den Holocaust Nummer zwei erlebt haben, nach Hause zu bringen. Ich bitte die deutsche Regierung, uns dabei zu helfen, sie nach Hause zu bringen – bitte!

 

Matty Dancyg hofft darauf, dass alle Geiseln wieder nach Hause kommen (Foto: Aviv Abergel)

 

Mangelndes Vertrauen in die Regierung

Ich möchte, dass es in diesem Interview hauptsächlich um die Geiseln und meinen Vater geht und darum, dass die Geiseln zurückgebracht werden, aber ich kann es nicht vermeiden, eine Sache über die Politik zu sagen: Die Regierung Israels und derjenige, der an der Spitze der Regierung steht, hat dieses Land Israel in den letzten Jahren zerstört. Es wurde in den letzten Monaten immer schlimmer. Sie haben uns im Stich gelassen, sie haben den Staat Israel sozial, finanziell und auf viele andere Weisen zerstört. Was jetzt passiert ist, ist eine Fortsetzung dieser Zerstörung. Wir trauen dieser Regierung nicht. Wir wollen, dass sie zurücktritt. Netanjahu sollte sofort zurücktreten und diese Autorität an jemanden zurückgeben, dem wir vertrauen können. Wir trauen ihm nicht und wir trauen seinen engsten Freunden in der Regierung nicht. Israel braucht jemanden, der nicht korrupt ist und kein Lügner ist. Wir brauchen jemanden, dem wir vertrauen können, und das ist nicht Netanjahu. Gib zu, dass du einen Fehler gemacht hast. Gib dein Versagen zu, tritt zurück und lass uns etwas Gutes in diesem Land aufbauen.

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