Wolodymyr Selenskyj kämpft für Respekt, Vielfalt und Demokratie
Die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in der Nacht vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat viele Menschen bewegt. Darin fand er klare Worte für die Freiheit in seinem Land und kämpft für Respekt, Vielfalt und Demokratie.
Wie viele Menschen in diesen Tagen fühlen auch wir uns hilflos und möchten den Ukrainer*innen helfen. Eine Möglichkeit ist es, unser Projekt #everynamecounts zu unterstützen. Dabei bauen wir ein digitales Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus – unter ihnen Hunderttausende Ukrainer*innen, deren Schicksale in unserem Archiv dokumentiert sind.
Helfen Sie, die Belege der Geschichte digital zu bewahren und für die Welt zugänglich zu machen. Am 1. März bombardierte die russische Armee einen Fernsehturm in direkter Nähe der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar. „Für jeden normalen Menschen, der unsere Geschichte kennt, die Weltgeschichte, ist Babyn Jar ein besonderer Teil von Kiew“, kommentierte Selenskyj den Angriff.
Erinnerungskultur für die Ukraine bewahren
Innerhalb unseres Crowdsourcing-Projekts #everynamecounts werden wir ab kommender Woche Dokumente zu Ukrainer*innen bereitstellen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Wir laden alle Freiwilligen dazu ein, diese Dokumente zu indizieren und dadurch einen Teil Erinnerungskultur für die Ukraine aufrecht zu erhalten.
#everynamecounts ist eine Initiative der Arolsen Archives – mit dem Ziel den Verfolgten des Nationalsozialismus ein digitales Denkmal zu errichten. Damit auch zukünftige Generationen sich an die Namen und Identitäten der Opfer erinnern können. Es geht zudem um unsere heutige Gesellschaft. Denn der Blick zurück zeigt uns, wohin Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus führen.
Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vom 23.2.2022 auf Russisch
"Heute habe ich versucht, ein Telefonat mit dem Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, zu führen. Die Reaktion: Ruhe. Eine Ruhe, die im Donbas herrschen sollte.
Deshalb wende ich mich heute mit einem Appell an alle Bürger Russlands, nicht als Präsident, ich appelliere an das Volk von Russland als Bürger der Ukraine. An unserer gemeinsamen mehr als 2000 Kilometer langen Grenze steht Eure Armee mit fast 200.000 Soldaten und Tausenden von militärischen Einheiten. Eure politischen Führer haben Euren Truppen genehmigt, einen Schritt weiter in unsere Richtung zu machen, in Richtung eines anderen Landes. Dieser Schritt kann der Beginn eines ausgewachsenen Krieges auf dem europäischen Kontinent bedeuten.
Die ganze Welt spricht über das, was nun jeden Tag passieren könnte. Ein Grund kann jeden Moment auftauchen. Jede Provokation. Jeder Funke. Ein Funke, der das Potenzial hat, eine Flamme zu entfachen, welche das Potenzial hat, alle niederzubrennen. Euch wurde gesagt, diese Flamme würde dem Volk der Ukraine Freiheit bringen. Aber das ukrainische Volk ist bereits frei. Sie erinnern sich ihrer Vergangenheit und sind dabei, ihre eigene Zukunft aufzubauen. Sie bauen sie auf, sie zerstören sie nicht, wie es Euch jeden Tag im Fernsehen erzählt wird. Die Darstellung der Ukraine in Euren Nachrichten und die Ukraine in der Realität sind zwei völlig verschiedene Dinge, der wichtigste Unterschied ist der, dass unsere Realität eben die Wahre ist.
Es wurde gesagt, wir wären Nationalsozialisten.
Aber wie kann eine Nation „nationalsozialistisch“ genannt werden, nachdem sich mehr als 8 Millionen Leben aufgeopfert haben, um den Nationalsozialismus auszurotten?
Wie kann ich ein Nazi sein, wenn mein Großvater den gesamten Krieg als Teil der sowjetischen Infanterie überlebte und als Oberst in einer unabhängigen Ukraine starb.
Euch wird gesagt, wir würden die russische Kultur hassen. Aber wie kann man eine Kultur hassen? Jegliche Kultur? Nachbarn bereichern einander immer kulturell.
Das macht sie zwar nicht zu einer Einheit, aber trennt sie auch nicht in „wir“ und „die anderen“.
Wir sind verschieden, aber das ist kein Grund, verfeindet zu sein.
Wir wollen an unserer eigenen Geschichte bauen. Friedvoll, ruhig, wahrhaftig.
Euch wurde gesagt, ich hätte befohlen, den Donbas anzugreifen. Zu beschießen. Zu bombardieren, ohne Fragen zu stellen. Obwohl da Fragen bleiben: Auf wen schießen? Was bombardieren?
Donezk? Wo ich Dutzende Male war? Ich habe ihre Gesichter und Augen gesehen.
Artema? Wo ich seinerzeit mit Freunden spazieren ging?
Die Donbas Arena? Wo ich Arm in Arm mit Einheimischen unsere Jungs während der Europameisterschaft anfeuerte?
Den Shcherbakova Park? Wo wir zusammen tranken, als unser Team verloren hatte?
Lugansk? Die Heimat der Mutter meines besten Freundes? Der Ort, an dem sein Vater beerdigt ist?
Beachtet, dass ich jetzt Russisch spreche, obwohl niemand in Russland versteht, was diese Namen, Straßen und Ereignisse bedeuten. Das ist Euch alles fremd. Unbekannt.
Das ist unser Land. Das ist unsere Geschichte.
Wofür werdet ihr kämpfen? Und gegen wen?
Viele von Euch waren schon in der Ukraine. Viele von Euch haben Verwandte in der Ukraine.
Einige von Euch haben an unseren Universitäten studiert. Haben sich mit Ukrainern angefreundet. Ihr kennt unseren Charakter, ihr kennt unser Volk, ihr kennt unsere Prinzipien. Ihr wisst, was wir am meisten wertschätzen.
Schaut in Euer Innerstes, hört auf meine Stimme der Vernunft, des gesunden Menschenverstandes. Hört unsere Stimme.
Das Volk der Ukraine will Frieden. Die ukrainische Regierung will Frieden.
Wir wollen das und wir schaffen das. Wir tun alles, was in unserer Macht steht.
Wir sind nicht allein.
Es stimmt, die Ukraine wird von vielen Ländern unterstützt. Warum?
Weil wir nicht von „Frieden um jeden Preis“ reden. Wir reden von Frieden und Prinzipien der Rechtmäßigkeit.
Über das Recht aller auf Selbstbestimmung, sowie das Recht von jedem Menschen die eigene Zukunft zu gestalten und ohne Bedrohungen zu leben.
All das ist uns wichtig für den Frieden auf der Welt. Ich weiß, es ist auch wichtig für Euch.
Wir wissen mit Sicherheit, dass wir diesen Krieg nicht brachen, weder einen kalten, noch einen heißen. Und auch keinen hybriden. Aber wenn Truppen bei uns einmarschieren, wir bedroht werden, wenn jemand versucht, uns unser Land wegzunehmen, unsere Freiheit, unsere Leben, die Leben unserer Kinder, dann werden wir uns verteidigen.
Nicht angreifen, aber uns selbst verteidigen. Wenn ihr uns angreift, werdet ihr unsere Gesichter sehen, nicht unsere Rücken, sondern unsere Gesichter.
Krieg bedeutet großes Unglück und hat einen hohen Preis, im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Menschen verlieren ihr Geld, ihren Ruf, ihren Lebensstandard, Freiheit und am wichtigsten: Die Leute verlieren diejenigen, die sie lieben. Sie verlieren sich selbst.
Im Krieg fehlt es an vielem, was es aber im Überfluss gibt ist Leid, Schmutz, Blut und Tod. Tausende, Zahntausende Tote.
Euch wurde gesagt, die Ukraine sei eine Bedrohung für Russland. Das war sie nie, ist sie nicht und sie wird es auch in der Zukunft nicht sein. Ihr fordert Sicherheitsgarantien von der NATO. Wir fordern ebenfalls Garantien für unsere Sicherheit.
Für die Sicherheit der Ukraine. Von Euch. Von Russland und der anderen Garanten des Budapest-Memorandums.
Zum heutigen Zeitpunkt sind wir kein Teil von irgendwelchen Sicherheits Allianzen. Die Sicherheit der Ukraine ist an die Sicherheit unserer Nachbarn gebunden. Darum müssen wir heute über die Sicherheit von ganz Europa reden. Aber unser oberstes Ziel ist Frieden in der Ukraine und die Sicherheit unserer Bürger. Den Ukrainern.
Um das zu erreichen, sind wir für jeden, Euch eingeschlossen, auf verschiedenen Wegen und in jeglichen Formen gesprächsbereit.
Krieg beraubt jedem seine Sicherheitsgarantien. Niemand wird mehr Sicherheitsgarantien haben. Wer wird darunter am meisten leiden? Die Menschen.
Wer möchte es am wenigsten? Die Menschen. Wer kann verhindern, dass all dies passiert? Die Menschen. Gibt es solche Menschen unter Euch?
Ich bin sicher, es gibt sie. Personen des öffentlichen Lebens, Journalisten, Musiker, Schauspieler, Athleten, Wissenschaftler, Ärzte, Blogger, Comedians, TikToker und viele andere. Gewöhnliche Leute, normale, einfache Leute. Männer, Frauen, alt, jung, Väter und am wichtigsten Mütter.
Eben solche Menschen gibt es in der Ukraine, wie auch in der Regierung der Ukraine. Egal wie sehr man versucht Euch vom Gegenteil zu überzeugen.
Ich weiß, dass meine Ansprache nicht im russischen Fernsehen ausgestrahlt wird. Aber die Bürger Russlands müssen sie sehen. Sie müssen die Wahrheit erfahren. Und die Wahrheit ist, dass es aufhören muss, bevor es zu spät ist. Um des Friedens willen.
Und wenn sich die Autoritäten in Russland nicht mit uns an den Tisch setzen möchten, werden sie sich vielleicht mit Euch an den Tisch setzen.
Wollen die Menschen in Russland Krieg? Ich wäre gern in der Lage, das zu beantworten. Aber die Antwort hängt nur von Euch ab. Den Bürgern der Russischen Föderation.
Vielen Dank.“
Gerne verweisen wir auf die Übersichtsseite der Münchner Stadtbibliothek zu zuverlässigen Quellen und Faktenchecks zur aktuellen Situation in der Ukraine.
In den kommenden Tagen arbeiten wir das Schicksal von ukrainischen Opfern des Nationalsozialismus auf, wie beispielsweise von Nadeshda Alexejewa und Iwan Belij aus Cherson, einer Stadt die bei Kämpfen bereits von Russland eingenommen wurde.
Sie können für NS-Überlebende in der Ukraine spenden
Online-Event: Putins Mythos der „Entnazifizierung“