Zerstört, geplündert, der Witterung ausgesetzt: Hilferuf ukrainischer Archive

Das kulturelle Gedächtnis der Ukraine ist in akuter Gefahr. Millionen ungeschützter Dokumente sind Regen und Schnee ausgesetzt. Die Archive vor Ort benötigen dringend gut koordinierte Hilfe bei der Digitalisierung ihrer Bestände. Das ist das Ergebnis eines Berichts, den die Arolsen Archives jetzt veröffentlicht haben.

„Wir haben das Ausmaß der Zerstörungen und Plünderungen gesehen und verstanden, dass Russland die Auslöschung von historischen Erinnerungen als Waffe einsetzt. Vor diesem Hintergrund sehen wir es als unsere Verantwortung an, dazu beizutragen, die Bestände zu erhalten“, erklärt Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives. Der nun veröffentlichte Bericht basiert auf systematisch geführten Interviews mit 23 Vertreter*innen der staatlichen Regionalarchive und Expert*innen weiterer Archive, durchgeführt von Hanna Lehun, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arolsen Archives. Hanna Lehun ist gebürtige Ukrainerin und recherchiert für die Arolsen Archives in ukrainischen Archiven.

 

Bericht dokumentiert Grad der Zerstörung

Nach Angaben der Archive sind die Archivgebäude sowohl im Norden in Tschernihiw als auch im Süden in Mykolajiw, Welyka Oleksandriwka und Cherson beschädigt. Die Bestände in Cherson wurden zu 50 Prozent geplündert und gelten als verloren. Das Regionalarchiv in Wyssokopillja (unweit von Cherson) ist vermint und kann nicht betreten werden. Bestände, die vor den russischen Truppen gerettet werden konnten, wurden unter Zeitdruck in andere Archive verlegt und gerieten so in Unordnung. Die meisten Archive arbeiten derzeit mit lediglich 50 Prozent ihres Personals.

 

Unterstützung bei Digitalisierung dringend notwendig

Alle Befragten halten die rasche Digitalisierung der Bestände für den wichtigsten Weg, um sie zu erhalten und vor Zerstörung oder Plünderung zu schützen. In den meisten regionalen Staatsarchiven, zum Beispiel in Winnyzja, Kropywnyzkyj und Poltawa wird dies derzeit konsequent vorangetrieben. In vielen Archiven fehlt es allerdings an Personal und technischer Ausstattung. Computer wurden geplündert; es sind nicht genügend Scanner mit Hochauflösung vorhanden. Es braucht Schulungen, um in großem Umfang scannen zu können. Die Scanergebnisse sind teilweise aufgrund mangelhafter Dokumentenvorbereitung unbefriedigend. Speicherkapazitäten und Zugänge zu Archivierungssoftware sind limitiert. Die Pflege von Metadaten bleibt häufig außen vor. „Es fehlt an systematischen Plänen mit klaren Prioritäten und Erfolgsindikatoren. Das macht es den Verantwortlichen schwer, ihre Fortschritte zu bewerten“, so Autorin Hanna Lehun.

 

Dokumente über deutsche NS-Verbrechen in Gefahr

Der Verlust der Dokumente hat auch direkt Auswirkungen auf Hanna Lehuns Arbeit bei den Arolsen Archives: In den ukrainischen Beständen schlummern wichtige Dokumente über NS-Verbrechen während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. An diese kommt sie nun erschwert heran. Es fehlt an Kapazitäten für die Indizierung der digitalen Dokumente. „Ohne Indizierung haben Forschende und Öffentlichkeit viel eingeschränktere Möglichkeiten in den Archiven zu recherchieren. Idealerweise sollte die Indexierung neben dem Scannen und Digitalisieren eine Priorität haben. Für die Indexierung kann es jedoch notwendig sein, Spezialist*innen hinzuzuziehen, die Hinweise über alte Namen und Verwaltungsstrukturen liefern können. In diesem Fall könnten wir von den Arolsen Archives helfen und die geografischen Daten und Namen von Einrichtungen mit Bezug zum ‚Dritten Reich‘ beisteuern“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin und schlägt vor, kleine Indexierungszentren einzurichten, die einen engen Informationsaustausch mit den Archiven pflegen.

Die Archive selbst wünschen sich derzeit vor allem Sachspenden, Software-Lizenzen, dauerhafte Nutzungsrechte und personelle Unterstützung. Finanzielle Hilfen halten die meisten für zu bürokratisch und langsam. Alle Archive geben zudem an, Material für die physische Aufbewahrung der Dokumente nach dem Scannen zu benötigen, vor allem Boxen, die den heutigen Standards entsprechen. „Wir versuchen, mit unseren Mitteln die Archive bei dieser gewaltigen Aufgabe zu unterstützen“, erklärt Floriane Azoulay. „Doch um das kulturelle Gedächtnis der Ukraine zu bewahren, braucht es mehr Partner und mehr finanzielle Mittel.“

 

Der komplette Bericht in englischer Sprache „The Preservation of cultural heritage in Ukraine, Needs Assessment Report on Ukrainian Archives“ kann heruntergeladen werden. 

Das zerstörte Archiv in Wyssokopillja

Fotocredit: Dina Shelest

Das Archivgebäude in Wyssokopillja ist immer noch vermint.

Fotocredit: Dina Shelest

Scanarbeiten im Regionalarchiv von Winnyzja, mit Scannern, die von den Arolsen Archives zur Verfügung gestellt wurden.

Fotocredit: Hanna Lehun

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