Intro
„Meine Großeltern Moritz und Malka kamen aus der Ukraine über England nach Stuttgart. Sie mussten vor den Pogromen fliehen. Mir fehlen die Worte, denn jetzt ist in der Ukraine wieder Krieg. Es ist ein derartiges Desaster, wenn man alles verliert, was man aufgebaut hat und die Liebsten verliert und das eigene Leben. Es wirkt sich aus auf das weitere Leben, wenn man Verfolgung überlebt und auch auf die nächste Generation.“ Nadine Olonetzky ließ vergangene Woche fünf Stolpersteine für ihre Familienangehörigen in Stuttgart verlegen.
Ihr Großvater Moritz Olonetzky, die Onkel Efrem Olonetzy und Avraham Olonetzky, ihr Vater Beny Olonetzky und ihre Tante Paula Apfelbaum-Olonetzky wurden von den Nationalsozialisten verfolgt. Dreien gelang die Flucht nach Palästina, ihrem Vater in die Schweiz. Nadines Großvater Moritz und ihre Tante Anna Berkheim-Olonetzky haben die Nazis deportiert und 1942 ermordet.
Moritz Olonetzky
Moritz und meine Großmutter Malka Olonetzky-Ziegelmann ziehen 1905 oder 1906 von Odessa zunächst nach Saratow. Die Stadt liegt an der mittleren Wolga im Süden Russlands. Dort kommt am 26. November 1906 meine Tante Paula zur Welt. Da die Situation für Juden und Jüdinnen weiterhin schwierig ist, emigriert die Familie über England nach Deutschland. 1909 lassen sich meine Großeltern mit ihrer kleinen Tochter in Stuttgart nieder; die erste Adresse lautet Champignystraße Nr. 3, Parterre, dann Böblingerstraße 13, wo am 26. Juli 1910 mein Onkel Efrem geboren wird. Ein Abraham Olonetzky, geboren ebenfalls in Odessa, lebt da bereits mit seiner Frau Charlotte Olonetzky-Kosoritsch und den Söhnen Max und Jakob in Stuttgart. Ob Abraham der Vater oder ein Onkel meines Großvaters Moritz ist, weiß ich nicht. Immer sind Menschen lieber an Orte migriert, an denen bereits Verwandte oder Freunde leben.
Zwangsarbeit in Stuttgart
Moritz flieht mit meiner Grossmutter Malka über England nach Stuttgart. Ab 1939 werden alle Juden «zwangseingewiesen» und müssen auf engstem Raum in «Judenhäusern» zusammenleben. Ab 1940 ist Moritz wie alle jüdischen Männer im Adressbuch mit dem Zusatznamen «Israel» aufgeführt, 1941 muss er in
die Klopstockstraße 42, 2. OG, umsiedeln. Ab 19. September 1941 ist er verpflichtet, den «Judenstern» zu tragen. Um die Familie über Wasser zu halten, ist er gezwungen, Gegenstände zum Pfandleiher zu bringen.
Schon 1942 muss er wieder umziehen, zusammen mit seinem Sohn Benjamin Emil, meinem Vater. Auch dieser wird im Adressbuch mit dem Zusatznamen «Israel» aufgeführt, und beide werden als «Arbeiter» bezeichnet, was zynischerweise ja stimmt, da sie Zwangsarbeit leisten: «1942: Olonetzky, Emil Israel, Arbeiter, und Olonetzky, Moritz Israel, Arbeiter, Reinsburgstraße 107, DG.» Zuletzt wird mein Großvater gezwungen, an der Hospitalstraße 34 zu wohnen, von wo aus er am 26. April 1942 deportiert wird. Der zu diesem Zeitpunkt noch verbliebene Hausrat und das restliche Vermögen werden konfisziert.
Deportation
Mein Großvater kommt am 29. April 1942 in Izbica an. Ob er in Izbica selbst, in Belzec oder in Sobibor ermordet wird, ist ungeklärt. Mein Vater nahm an, dass er mit dem nächstmöglichen Transport ins Vernichtungslager kam – er erwähnte immer Treblinka. Wahrscheinlicher ist der 1. Mai 1942, als 500 Menschen nach Sobibor deportiert und ermordet werden, oder die «Dritte Aktion» vom 12. bis 15. Mai 1942 ebenfalls nach Sobibor; zu Belzec fehlen Informationen. Niemand des «Da 56»-Transports aus Stuttgart überlebt.
Beny Olonetzky
In einem Aktenvermerk des «Landesamts für die Wiedergutmachung» Stuttgart vom 7. Januar 1954 heißt es zur Ausbildung: «Auch ist anzunehmen, dass sein Vater nicht in der Lage gewesen ist, die Kosten einer solchen Ausbildung zu bezahlen. (...) Am 10.4.1938 hat der Vater des Antragstellers an das Wohlfahrtsamt ein Unterstützungsgesuch zur Übernahme der Kosten für den Aufenthalt im Katharinenhospital gestellt. Er war also im Jahre 1938 verarmt, dass Verfolgungsmaßnahmen wesentlich dazu beigetragen haben, ist unwahrscheinlich.» Der letzte Satz macht mich sprachlos. Mein Großvater hat 1938 aus antisemitischen Gründen seine Arbeit verloren und danach Zwangsarbeit geleistet, die «Verarmung» ist genauso erklärtes Ziel gewesen wie die «Vernichtung durch Arbeit».
Bis Mitte November 1938 wird er von verschiedenen Firmen im Straßenbau in Stuttgart-Vaihingen zur Zwangsarbeit eingesetzt und muss die in der Pogrom-Nacht vom 9./10. November 1938 zerstörte Synagoge aufräumen. Ein herabfallender Stein verletzt seinen Fuß, bis Januar 1939 ist er arbeitsunfähig. Vom 15. Januar 1939 bis zur «Einweisung» ins Arbeitslager «Schlosshof» bei Bielefeld im Januar 1940 arbeitet er als Hilfs- und Bauarbeiter bei der Firma Erich Schumm in Stuttgart; wo er wohnt, ist unklar. Als Insasse des Arbeitslagers «Schlosshof» wird er etwas mehr als ein Jahr lang, vom Januar 1940 bis März 1941, als Straßenarbeiter und in der Müllabfuhr der Stadt Bielefeld eingesetzt. Noch am 16. Mai 1951 bezeichnet der Chef der Polizeibehörde von Bielefeld in einem Schreiben an das «Landesamt für die Wiedergutmachung» das Arbeitslager als «jüdisches Gemeinschaftslager mit ca. 80 Personen».
Zwar ist das Lager, in dem bis zu 150 Männer untergebracht sind, nicht speziell bewacht, es untersteht jedoch der «Stapostelle Bielefeld». Regelmäßig werden Kontrollen durchgeführt und mit der Deportation gedroht. Überraschend wird meinem Vater in Aussicht gestellt, über Jugoslawien nach Tanger, Marokko, abgeschoben zu werden unter der Bedingung, dass er verheiratet ist. Deshalb heiratet er am 13. März 1941 seine halbjüdische Freundin Hanna Kesting und bekommt dafür vom Leiter des Arbeitslagers drei Tage Urlaub. Doch der Einmarsch der Wehrmacht in Jugoslawien am 6. April 1941 verunmöglicht die Abschiebung.
Ab April 1941 wird mein Vater erneut zu Zwangsarbeit bei der Firma Erich Schumm in Stuttgart eingezogen: für knapp zwei Jahre, bis Februar 1943. Er wohnt zunächst mit seinem Vater an der Reinsburgstraße 107 (die Firma Schumm befindet sich an derselben Straße), dann zusammen mit seiner Frau an der Eberhardstraße 1. Ab 19. September 1941 muss auch er den «Judenstern» tragen. Am 28. Februar 1943 werden die jüdischen Zwangsarbeiter der Firma Schumm von ihrem Vorgesetzten Franz Josef Morelli informiert, dass sie anderntags um sechs Uhr früh «zum 11 Abtransport bereitstehen» müssen. Der Deportationsbefehl ins Vernichtungslager durch die Gestapo gilt für alle Juden außer für jene, die mit arischen Frauen verheiratet sind. In der Nacht fliehen mein Vater und seine Frau Hanna nach Wuppertal-Barmen. Sie lassen – es ist Ende Februar und kalt – «den gesamten ehelichen Hausrat» zurück. In Wuppertal kommen sie bei Margarete Voigtländer unter, einer Bekannten von Hannas Mutter. Margarete Voigtländers Mann ist gefallen, sie lebt mit ihren Kindern in einer Wohnung mit Hinterzimmer. In diesem Zimmer versteckt sie Beny und Hanna drei Monate lang: von Ende Februar bis Ende Mai 1943. Niemand im Haus weiß davon, und bei Bombardierungen finden alle Hausbewohner Schutz im Keller – außer sie. Die Nahrungsmittel sind extrem knapp, obwohl Hannas Mutter hilft. Er erinnert sich in seiner eidesstattlichen Aussage: «Meine Schwiegermutter, die mit einem Nichtjuden verheiratet war, ließ uns über Frau Voigtländer Lebensmittel in sehr bescheidenem Maß zukommen.»
Am 29./30. Mai wird Wuppertal-Barmen von den Briten schwer bombardiert, und Beny und Hanna laufen ins Freie; das Haus wird beschädigt. Er berichtet in seiner eidesstattlichen Erklärung: «In dem allgemeinen Durcheinander schloss ich mich dem Zug der Obdachlosen am nächsten Vormittag an und gab mich bei der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) unter dem Namen ‹Bernd Weber› als total ausgebombt aus. Ich erhielt auf diesen fingierten Namen einen braunen Ausweis, wie ihn auch die anderen Fliegergeschädigten, die ihre Personalpapiere verloren hatten, bekamen.» Da Margarete Voigtländer die beiden nicht länger beherbergen bzw. verstecken will, ihnen jedoch eine Unterkunft bei ihrer Schwester im von den Deutschen längst besetzten Colmar vermittelt, reisen sie ins Elsass. Hanna bleibt in Colmar, mein Vater reist weiter nach Mulhouse, wo er sich beim NSDAP-Kreisleiter meldet: «Es wird auf Ende der ersten Juni-Woche 1943 gewesen sein, dass ich dort ankam. Als ich mir den braunen Ausweis in Wuppertal verschaffte, gab ich mich aufgrund einer von einer Sportverletzung herrührenden Narbe am Rücken als schwer kriegsbeschädigt und selbstverständlich auch als fliegergeschädigt aus, und das war auf meinem Ausweis vermerkt. Ich begab mich, indem ich alles auf eine Karte setzte, zum Kreisleiter in Mülhausen, und dieser gab mir die Adresse eines Reichsdeutschen, bei dem ich eine Unterkunft unentgeltlich erhielt.»
Von Mulhouse aus erkundet er auf Fußmärschen das Gebiet entlang der Grenze, versteckt sich in Heuställen. «Am 28. August 1943 fand ich endlich in der Gegend von Leymen bzw. Benken (Elsass) unmittelbar an der Schweizer Grenze den Fluchtweg. Ich fuhr daraufhin nach Mülhausen, ließ meine Frau, die auch den NSV-Ausweis auf den Namen Weber hatte, nach Mülhausen kommen, und floh mit ihr am 1. September 1943 an der ausgekundschafteten Stelle in die Schweiz.» Mein Vater und Hanna werden von den Schweizer Grenzwachen nicht zurückgeschickt, was 1943 die absolute Ausnahme ist; er ist 26 Jahre alt und wiegt noch 44 Kilogramm. Mein Vater kommt zuerst in Basel ins Gefängnis, danach bis Kriegsende ins Flüchtlingslager in Serneus im Prättigau – später werden wir in dieser Gegend immer unsere Ferien verbringen. Hanna ist währenddessen im Kanton Thurgau untergebracht und bringt am 5. September 1944 Michael, meinen Halbbruder, zur Welt.
Aufwühlende Recherche
Zum Beispiel bekommt mein Vater am 6. Mai 1953 die folgende Antwort des «Landesamts für die Wiedergutmachung»: «Obengenannter hat Antrag auf Entschädigung eines im wirtschaftlichen Fortkommen erlittenen Schadens gestellt. Nach seinen Angaben will er im Jahre 1936 seine Lehre bei der Firma Bamberger & Hertz, Stuttgart, beendet haben und anschließend bis zum Herbst 1936 bei der gleichen Firma als Dekorateur tätig gewesen sein. (…) Der Antragsteller kann uns über seine Angaben keine konkreten Beweise vorlegen.» Mein Vater musste wie alle, die Entschädigung forderten, einzelne Anträge stellen: wegen «Schadens an Freiheit», «Schadens an Eigentum», «Schadens an Ausbildung», «Schadens im beruflichen Fortkommen». Er musste für alles Zeugen und Beweise beibringen, obwohl in einem amtlichen Schreiben vom 27. März 1950 bestätigt wird, dass eben sämtliche Ausweise, Papiere, Anmeldescheine etc. durch die Verfolgung und bei Bombardierungen verloren gegangen waren.
Wer Ansprüche hat, muss beweisen, dass er dazu berechtigt ist, das leuchtet ein. Dennoch war der gesamte Entschädigungsprozess voller Demütigungen: Auf einen Antrag folgten immer zunächst die Abweisung, dann Anfechtungen, Rekurse und schließlich ein Vergleich. Mein Vater tat sein Bestes, sich exakt zu erinnern, immerhin zehn und mehr Jahre später, vom Erlebten traumatisiert und bereits voll in einem neuen (Berufs-)Leben stehend. Er rannte von Amt zu Amt, von Mensch zu Mensch, um zu den Beweisen zu kommen. Bei manchen Anträgen wurde zwar zuerst der grundsätzliche Anspruch anerkannt, aber die Verhandlung, warum die Entschädigung – der Begriff «Wiedergutmachung » wird seit den 1980er-Jahren als Verharmlosung kritisiert – berechtigt war und wofür wie viel bezahlt werden sollte etc., blieb kräfteraubend. Ich denke, es gab viele, die das ganz einfach nicht durchstanden.
Wahrheit
Warum seine Schwester und die Brüder in Israel lebten und er in der Schweiz, sie alle aber aus Deutschland gekommen waren, obwohl sie doch ursprünglich Juden aus der Ukraine waren, erklärte er nicht. Wenn doch einmal etwas von früher zur Sprache kam, sagte er immer: «Das erzähle ich dir, wenn du alt genug bist.» Das liess mich als Kind verstummen; diese Antwort produzierte eine Art Frageverbot. Doch war sein Schweigen auch Ausdruck von Rücksichtsnahme.
Ich hatte bis zur Scheidung meiner Eltern eine sehr behütete Kindheit, mit Geborgenheit, Wärme und Liebe; sie war hell vor dunklem Hintergrund sozusagen. Obwohl wir keine materiellen Sorgen hatten, vermittelte uns mein Vater durch sein Verhalten im Alltag aber immer wieder auch, dass die Welt ein unberechenbar gefährlicher Ort sein kann. Das verursachte – wohl zusammen mit Sätzen, die ich als Kind aufgeschnappt hatte – insgesamt ein schwieriges Gefühl: Etwas ganz Furchtbares war geschehen, das war klar.
Es führte auch dazu, dass ich in unserem Haus «Geister» sah. Ich «sah» oder «wusste», dass Tote da waren. Sie standen zum Beispiel in der Ecke in einem Zimmer, in dem ich Klavier üben musste, sehr sehr unheimlich. Meine Eltern machten sich natürlich Sorgen und kümmerten sich auch um mich, doch kam der mögliche Grund nicht zur Sprache. Abgesehen davon, dass es in vielen Kindheiten spukt, denke ich, die «Geister» waren mein Bild für das Unausgesprochene, das präsent war.
Als mein Vater mir dann ankündigte, er wolle mir etwas Wichtiges erzählen (meine Eltern waren bereits geschieden), war ich 15. Ich kann mich erinnern, dass ich Angst vor dem Gespräch hatte. Wir trafen uns im Botanischen Garten in Zürich, und er erzählte mir dort von der Ermordung seines Vaters, dass er selbst Zwangsarbeit hatte leisten müssen und wie er in die Schweiz geflohen war. Er sprach lange. Er erzählte das, was er erzählen wollte oder konnte.
Ich erinnere mich auch, wie schwer das Gewicht auf mir lastete, als ich nun endlich hörte, was passiert war. Ich sass hilflos auf der Parkbank, er weinte, was sonst eigentlich nie vorkam. Ich konnte ihn nicht trösten, das war schrecklich. Es war auch die komplette Überforderung. Und es war wieder schwierig für mich, ihm weitere Fragen zu stellen. Auch später, als ich wirklich alt genug war und kein Teenager mehr, gelang es mir nicht, ihn dazu zu befragen. Das bedaure ich heute sehr. Es wäre gut gewesen, mehr von ihm selbst zu erfahren.
Der Brocken im Hals
Wie hat dieses Gespräch Ihr weiteres Leben beeinflusst?
Dieses Gespräch ist unvergesslich und insofern eine Zäsur. Die «Geister» bekamen Namen. Allerdings denke ich, dass nicht allein dieses Gespräch, sondern das, was während der Shoah mit meinem Vater und seiner Familie geschah, mein Leben stark geprägt hat. Was er mir erzählt hatte, blieb mir lange wie ein dicker Brocken im Hals stecken. Ich war ohne Sprache dafür. Als ich etwa 25 war, verstand ich, dass ich mich damit auseinandersetzen musste. Zum einen hatte ich das Gefühl, der Brocken stünde mir im Weg zu meinem eigenen Leben. Zum anderen erkannte ich, dass er Teil auch meines Lebens war, ob ich das nun wollte oder nicht. Es gab dann immer wieder Phasen, in denen ich mich aktiv mit der Vergangenheit beschäftigte, und Phasen, in denen anderes wichtig war: die Arbeit, Reisen, Freunde, die Liebe, die Gegenwart.
1350 Seiten
Mit pandemiebedingter Verzögerung – die Archive waren eine Zeitlang geschlossen – und unter mithilfe von Andreas Nikakis von der Initiative Stolpersteine Stuttgart kamen in den Staatsarchiven Ludwigsburg und Stuttgart rund 1350 Seiten Dokumente ans Licht. Zudem stiess ich im Lauf der Recherche auch auf Ihr Archiv, wo sich noch einmal viele Dokumente fanden. Zuerst war ich ganz erschlagen von der Menge. Dann habe ich alle Seiten ausgedruckt und zu lesen angefangen.
Es handelt sich um Deportationslisten, Krankenkassenkarten und vieles mehr, im Wesentlichen jedoch um die Korrespondenz, die mein Vater und seine Geschwister ab 1949 bis Mitte der 1970er-Jahre mit dem «Landesamt für die Wiedergutmachung» in Stuttgart führten. Also um Briefe des Amts und um Antworten der Rechtsanwälte oder der United Restitution Organization (URO), um Zeugenaussagen, etc. Die Beweislast für das erlittene Unrecht lag bei meinem Vater und seinen Geschwistern.
Ich fand in den Dokumenten einiges über meinen Grossvater, auch über meine Tanten und meine beiden Onkel, aber das meiste betraf meinen Vater. Das überraschte mich zuerst, war aber eigentlich klar: Er war fast zehn Jahre länger in Deutschland geblieben als seine Geschwister, war deshalb mehr betroffen und hatte später grosse Ausdauer im Kampf um Entschädigung gezeigt.
„Ich möchte mich noch eingehender mit der Geschichte der Entschädigung befassen“
Die Dokumente kamen ziemlich chaotisch zu mir, nichts war chronologisch geordnet, einiges war mehrfach vorhanden. Ich versuchte also, die Dokumente zu ordnen, notierte beim Lesen Informationen und schrieb Zitate aus der Korrespondenz ab. Ich füllte etwa 60 Seiten mit Zitaten und Notizen. Zudem las ich anderes Quellenmaterial wie die Forschungsarbeit von Steffen Hänschen über das Transitghetto Izbica (Metropol Verlag, 2018), in das mein Grossvater deportiert worden war. Die in den Schreiben des «Landesamts für die Wiedergutmachung» verwendete Sprache – der Tonfall und die Wortwahl – ist teilweise so schockierend, dass ich mich nun noch eingehender mit der Geschichte der Entschädigung befassen will.
Die Kurzbiografien schrieb ich also zunächst nur, um einen Überblick zu bekommen. Dann erst entstand die Idee, sie zu einem Booklet für die Stolpersteine zusammenzufassen. Inzwischen hatten wir uns entschieden, nicht nur für meinen Grossvater Moritz, sondern auch für meine Tante Paula, meine Onkel Efrem und Avraham und meinen Vater Beny Stolpersteine zu setzen.
Die Verlegung der Stolpersteine war sehr aufwühlend, wichtig und gut. Der Kantor der jüdischen Gemeinde von Stuttgart, Nathan Goldman, sang zwei wunderschöne Psalmen und der Musiker Frank Eisele spielte Akkordeon. Ich konnte zu allen Familienmitgliedern etwas erzählen. Dass auch mir unbekannte Menschen Blumen brachten, hat mich sehr berührt. Die Zeremonie hatte natürlich etwas von einer Beerdigung; es ist ja auch eine Denkmal-Setzung. Sie hatte aber auch etwas Versöhnliches und Tröstendes.
„Man muss sich verbeugen, um die Namen zu lesen“
An der Stelle, wo meine Familie zuletzt freiwillig wohnte und wo wir die Stolpersteine nun platziert haben, befindet sich jetzt ein grosses Gebäude; die Volkshochschule ist darin untergebracht. Hätte ja ein Parkhaus oder ein Supermarkt sein können! Eine Schule – das gefällt mir. Tatsächlich ist es aber schon merkwürdig und traurig, dass nichts, rein gar nichts mehr steht von der Welt, in der sie lebten: kein einziges Haus, nicht die Synagoge (die sowieso nicht, die musste mein Vater als Zwangsarbeiter aufräumen, als sie in Schutt und Asche lag). Dass kein einziger Gegenstand mehr da ist, keine Möbel, kein Schmuckstück.
Gunter Demnigs Stolpersteine sind wertvoll, feierlich, schlicht, unaufdringlich. Will man die Namen lesen, muss man sich verbeugen, das gefällt mir sehr. Dass nun auch die Namen meiner Familienangehörigen und ihr Schicksal durch die Steine nicht vergessen gehen, bedeutet mir viel.
Menschen wie Andreas Nikakis und alle anderen von der Initiative Stolpersteine Stuttgart leisten einen unschätzbar wertvollen Beitrag gegen das Vergessen und für eine friedliche Zukunft. Und dass Sie und die Arolsen-Archives einen Living-History-Beitrag veröffentlichen, bedeutet etwas Ähnliches: Individuelle Schicksale erzählen ein Stück Geschichte, Menschen gehen nicht vergessen, Erfahrungen können geteilt werden.
Verantwortung
Was möchten Sie gerne mit anderen Angehörigen und Menschen teilen, die sich gegen das Vergessen engagieren?
Dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ein Beitrag zum Frieden ist: zum eigenen, inneren Frieden und zum Frieden zwischen Gesellschaften und Kulturen.
Die Nationalsozialisten haben den Krieg und den Völkermord mit nie dagewesener, arbeitsteilig organisierter Systematik und mit kalter, bürokratischer Konsequenz durchgeführt. Aber jeder Krieg, wo und aus welchen Gründen er auch immer geführt wird, hat für jeden einzelnen Menschen ähnliche Folgen. Ob aktuell in der Ukraine oder in Syrien, Jemen, im ehemaligen Jugoslawien: Diejenigen, die überleben, vererben nicht nur die Haarfarbe oder die Sommersprossen an die nächsten Generationen, sondern auch den Schmerz, das Trauma, die Angst. Eine Erfahrung sitzt den Nachgeborenen, die auch die Verschonten sind, in den Knochen, eine Erfahrung, die sie nicht selbst gemacht haben, die aber nachwirkt.
Verantwortung
Doch die Verantwortung für das, was in der Gegenwart geschieht, liegt nicht nur irgendwo weit weg in der Politik und Wirtschaft, sondern auch bei uns selbst. Georg Büchner schrieb 1834 in einem Brief an seine Braut: «Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?» Ehrlichkeit und Mut – auch sich selbst gegenüber – sind leichter gesagt als getan.