Bei Haftkategorien handelt es sich um Kategorien, die die Täter*innen im Zuge der Verfolgung definiert haben. Die Zuschreibungen drücken die NS-Ideologie aus und reflektieren nicht zwingend die Identitäten der Betroffenen oder tatsächliche Geschehnisse. Im Konzentrationslagersystem korrespondierten die Haftkategorien mit bestimmten Winkelfarben. Häufig mussten die Häftlinge den Winkel an ihrer Kleidung tragen. Somit waren sie unmittelbar als Teil einer bestimmten Häftlingsgruppe erkennbar.

Die Frage, unter welchen Haftkategorien queere Menschen im Nationalsozialismus verfolgt wurden, lässt sich weder eindeutig noch abschließend beantworten. Dieser Beitrag soll einen kurzen Überblick über die relevanten Haftkategorien geben und Problematiken aufzeigen, die durch eine Fokussierung auf diese Kategorien entstehen können. Vorangestellt sei, dass eine Analyse der NS-Verfolgung ausschließlich entlang der verschiedenen Haftkategorien die Gefahr birgt, den Blick auf die Verschränkung mehrerer Verfolgungshintergründe zu verstellen oder die Identitäten der Betroffenen mit den Kategorien gleichzusetzen.

Der Begriff „queer“ wird erst seit wenigen Jahrzehnten als (Selbst-) Bezeichnung für sexuelle und geschlechtliche Identitäten außerhalb von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit verwendet. Wenn wir rückblickend von „queeren“ Menschen sprechen, tun wir dies im Wissen, dass sich die Betroffenen selbst nicht als „queer“ bezeichnet haben. Julia Noah Munier geht hier ausführlicher auf diese Thematik ein.

 

Wie wurde der §175 im Nationalsozialismus angewendet?

(Vermeintlich) homosexuelle Männer wurden auf Basis von §175 des Strafgesetzbuches kriminalisiert, der bereits im Deutschen Kaiserreich verabschiedet worden war und während des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren massiv verschärft wurde.

Während der NS-Herrschaft wurden etwa 53.000 Männer gemäß §175 von deutschen Gerichten verurteilt. Viele derjenigen von ihnen, die in Konzentrationslagern inhaftiert wurden – Forscher*innen schätzen, dass dies etwa 6.000 bis 10.000 Männer waren – , mussten den rosa Winkel tragen. Auch auf den Dokumenten, die die SS in den KZ über die Häftlinge anlegen ließ und die sich heute in den Beständen der Arolsen Archives befinden, sind immer wieder „rosa Winkel“ abgebildet. Oftmals erscheint der Winkel in Kombination mit den Angaben „homo.“ oder „§175“.

Mehrmals wegen „Homosexualität“ verurteilte Männer konnten auch als sogenannte „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslagern inhaftiert werden, wo sie den grünen Winkel tragen mussten. Nach §175a wurden zudem auch Männer wegen sexuellen Handlungen an (männlichen) Kindern und Jugendlichen bzw. jungen Männern (unter 21 Jahren) verurteilt. Auch sie wurden in den Konzentrationslagern den Kategorien „homosexuell“ und „Berufsverbrecher“ zugeordnet.

Nicht alle Betroffenen, die die Nationalsozialisten als „männliche Homosexuelle“ verfolgten, haben sich selbst als homosexuell identifiziert oder sind tatsächlich gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen eingegangen. Umgekehrt gab es auch Männer, die sich selbst als homosexuell definierten, jedoch auf Basis anderer Gründe von den NS-Behörden verfolgt und in Konzentrationslager verschleppt wurden – etwa als Juden oder als politische Gegner.

Mit Blick auf die Überschneidungen verschiedener Kategorien und Risiken im Kontext der NS-Verfolgung stellt Anna Hájková in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Menschen ohne Geschichte sind Staub. Homophobie und Holocaust“ fest, dass beispielsweise die Kategorien „jüdisch“ und „queer“ bisher viel zu oft getrennt gedacht wurden: „Es schien so, als wären alle verfolgten Homosexuellen Nichtjüd*innen, während die jüdischen Opfer immer als heterosexuell galten.“ (Wallstein Verlag 2021, S. 19)

 

Mit welchen Risiken waren lesbische Frauen und queere Menschen konfrontiert?

Erste grundlegende Studien zum Thema weibliche Homosexualität während der NS-Zeit wurden ab den 1990er Jahren, unter anderem von Claudia Schoppmann, veröffentlicht. Weshalb es insbesondere mit Blick auf die Forschung zu lesbischen Frauen in Konzentrationslagern und anderen Haftstätten immer noch viele offene Fragen gibt, lässt sich unter anderem damit begründen, dass die Betroffenen in Deutschland nicht auf der Grundlage einer strafgesetzlichen Bestimmung verfolgt wurden. Während im österreichischen Teil NS-Deutschlands auch Frauen wegen „Homosexualität“ verurteilt werden konnten (vgl. §129), bezog sich der §175 im sogenannten Altreich ausschließlich auf Männer. Bis heute gibt es in der Forschung kontroverse Ansichten darüber, inwiefern die Sexualität von lesbischen Frauen die Grundlage für ihre Inhaftierung in Konzentrationslagern war.

In dem Artikel Lesbianism, Transvestitism, and the Nazi State: A Microhistory of a Gestapo Investigation, 1939–1943 diskutiert Laurie Marhoefer am Beispiel der 1913 in Straßburg geborenen Ilse Totzke das besondere Risiko, dem als lesbisch gelesene Frauen sowie queere Personen ausgesetzt waren, von ihren Nachbar*innen denunziert zu werden. Marhoefer zeigt, dass Betroffene aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder wegen von Gender-Normen abweichendem Auftreten denunziert wurden und darüber in das Visier der Gestapo kamen. Hatten sie Kontakt zu Jüd*innen, waren selbst Jüdisch oder gehörten der Gruppe der Sinti*zze und Rom*nja an, tätigten sie in irgendeiner Form staatsfeindliche Aussagen oder vertraten sie kommunistische Positionen, waren dies Gründe, weshalb sie in ein Konzentrationslager eingewiesen werden konnten. Im KZ waren sie daher unterschiedlichen Haftkategorien zugeordnet und mussten entsprechende Winkel an ihrer Häftlingskleidung tragen (z.B. rot für „Politisch“, schwarz für „Asozial“).

Eine ausführliche Literaturliste, die auch die Arbeiten der zahlreichen weiteren Forscher*innen zum Thema beinhaltet, findet sich auf der Website „Sexuality and Holocaust“.

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