Vom Schulprojekt zur Crowdsourcing-Kampagne
2020 startete unsere Crowdsourcing-Aktion #everynamecounts. Diese Initiative bietet einen neuen und sehr direkten Weg, sich aktiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und durch die Mitarbeit vieler tausender Freiwilliger ein Zeichen zu setzen: für die Erinnerung an die NS-Opfer und für Respekt, Vielfalt und Solidarität.
Anfang 2020 testeten wir das Projekt, das damals noch #JederNamezählt hieß, mit rund 1000 Schüler*innen. Mit dem umfassenden Zuspruch, der danach folgte, hatten wir nicht gerechnet und sind von dem großen Erfolg überrascht: 10.000 Freiwillige aus aller Welt registrierten sich 2020 für #everynamecounts und bearbeiteten 2,5 Millionen Dokumente.
„Eine menschlich tolle Erfahrung“
Was Anfang 2020 als #JederNamezählt begann, wurde im Laufe des Jahres zur internationalen Kampagne #everynamecounts. Im Interview erzählen Anke Münster, Leiterin der PR der Arolsen Archives und Christa Seidenstücker, Projektmitarbeiterin, wie sich unsere Crowdsourcing-Kampagne 2020 entwickelt hat und werfen einen Blick in die Zukunft.
Wie entstand die Idee zu #everynamecounts?
Anke: Zum ersten Mal kam die Idee zu einem Crowdsourcing-Projekt von einem Kollegen, der von einer Initiative zur Erschließung von historischen Dokumenten in den Niederlanden berichtet hat. Wir dachten zunächst, das wäre vielleicht nur etwas für Leute, die sich generell gerne mit Civil-Science-Projekten beschäftigen. Dann hatten wir die Idee, dass es sich gut für ein Schulprojekt eignen würde, sodass Schüler*innen am Holocaust-Gedenktag Dokumente aus dem Konzentrationslager Auschwitz indizieren könnten. So wurde das Projekt zu einer neuen Möglichkeit für Schüler*innen, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Wie habt ihr diese Idee zu #everynamecounts als Schüler*innenprojekt umgesetzt?
Christa: Als wir Zooniverse als Plattform gefunden hatten, haben wir das Projekt, das es anfangs nur auf Deutsch gab und #JederNamezählt hieß, für die Schüler*innen aufgebaut. 25 Schulen waren dann am 27. Januar 2020 mit dabei und vor allem der lokale Bezug der Transportlisten kam bei den Schüler*innen sehr gut an. Sie kannten zum Beispiel Adressen der ehemaligen KZ-Häftlinge und sahen, dass ganze Familien deportiert worden waren – oft mit Jugendlichen im gleichen Alter wie sie selbst.
Ganz besonders war es für viele Schüler*innen auch, Überstellungslisten aus Auschwitz zu bearbeiten. Wir haben ganz tolles Feedback dazu erhalten, zum Beispiel, dass es für sie ein gutes Gefühl war, mit dieser Aufgabe wirklich einen Mehrwert zu schaffen. Es hat sie bestärkt, zu wissen, ein aktiver Teil unserer Initiative zu sein und dafür zu sorgen, dass die Namen nicht vergessen werden.
Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie auf #everynamecounts?
Christa: Als wir plötzlich alle wegen der Corona-Pandemie ins Home Office wechselten, bezogen wir viele Mitarbeiter*innen in das Projekt ein, zum Beispiel das Team der Digitalisierung, das ja sonst keine Arbeitsmöglichkeit gehabt hätte. Gleichzeitig hatte unsere Direktorin Floriane Azoulay die Idee, dass es schön wäre, wenn wir das Projekt als virtuellen Gedenkort nutzen, da ja alle Gedenkveranstaltungen 2020 zu den 75. Jahrestagen der Befreiung der KZ abgesagt werden mussten.
Aus #JederNamezählt, wurde so die internationale Kampagne #everynamecounts. Dafür musste das Projekt einen Prozess durchlaufen, um ein offizielles und öffentlich zugängliches Zooniverse-Projekt zu werden. Am 24. April konnten wir dann mit #everynamecounts starten.
Lief der öffentliche Projektstart so, wie ihr euch es vorgestellt hattet?
Anke: Wir waren sehr positiv überrascht. Die Freiwilligen hatten innerhalb von einem Monat 250.000 Namen indiziert, das heißt, es lief von Anfang an richtig super. Vor allem der Artikel in der New York Times brachte uns unglaublich viel Resonanz und im August hatten sich bereits 7000 Freiwillige registriert.
Christa: Wir haben sehr davon profitiert, dass Zooniverse unser Projekt in ihrer Community verbreitet hat und am Tag nach dem New-York-Times-Artikel, hatten wir 50.000 Klassifikationen – das war ein absoluter Boost.
Wie hat #everynamecounts die Arolsen Archives verändert?
Christa: Zu Beginn lief das Projekt nebenher und war sehr kurzfristig entstanden. Mit einem kleinen Team hatten wir #JederNamezählt gestartet und haben relativ bald gemerkt, dass wir mehr Leute damit erreichen möchten und auch ein größeres Team brauchen.
Was bedeutet euch #everynamecounts persönlich?
Anke: Für uns alle ist das Feedback, das wir von den Freiwilligen bekommen, das, was uns am meisten beeindruckt. Wir hätten nicht damit gerechnet, dass wir durch das Projekt eine solche Forschungsneugier bei vielen Menschen entfachen können. Sie fangen an, selbst zu recherchieren und wollen wissen, was da genau mit den Personen passiert ist, deren Dokumente sie indiziert haben. Für mich ist es ein absolutes Highlight, dass sich jeder am Projekt beteiligen kann.
Christa: Es war wahnsinnig viel Arbeit, aber es hat sich ausgezahlt. Ich habe es als großes Geschenk empfunden, so eng mit unseren Nutzer*innen zusammen zu arbeiten. Es gab Angehörige, die ihre Familiengeschichte mit uns geteilt haben und es ist beeindruckend, wie sehr sich die Menschen im Forum geöffnet haben. Dort herrscht ein absolut wertschätzender Umgang miteinander, das ist wirklich bemerkenswert. Für mich ist es eine menschlich tolle Erfahrung, weil es zeigt, dass es so viele Leute gibt, die sich durch diese Schicksale berühren lassen, die bereit sind ihre Freizeit zu opfern. Das macht auch Mut, wenn man manchmal an der Welt zweifelt.
Welche Pläne habt ihr mit #everynamecounts für die Zukunft?
Anke: Wir möchten #everynamecounts international noch bekannter machen und auch noch mehr Schulen bei dem Projekt begleiten. Dafür haben wir eine digitale Lernanwendung entwickelt, die Anfang 2021 online ging. Wir stehen in den Startlöchern für eine größere Schulkampagne. Ein Highlight war im Januar die #everynamecounts-Medieninstallation in Berlin, anlässlich des Internationalen Holocaustgedenktags. Das haben wir 2020 zusammen mit dem Künstlerkollektiv von Urbanscreen vorbereitet. Gerne würden wir diese Medieninstallation nun auch durch verschiedene Städte wandern lassen. Insgesamt haben wir das Ziel, dass bis 2025 alle Dokumente unseres Archivs indiziert wurden und online zugänglich sind.
Meilensteine im Jahr 2020
- Januar 2020: Start des Pilotprojekts mit rund 1000 Schüler*innen aus Hessen.
- April 2020: Öffentlicher Launch des Projekts auf Deutsch und Englisch auf der Crowdsourcing-Plattform Zooniverse
- Mai 2020: 100.000 indizierte Namen in den ersten zwei Wochen
- Juni 2020: Eine Million indizierte Namen
- August 2020: 7.000 registrierte Freiwillige
- Oktober 2020: 1,5 Millionen indizierte Dokumente
- November 2020: Das Projekt wird Rahmen der Jubiläumsinitiative des Stifterverbandes, aus über 500 Einreichungen, als eine der 100 besten Ideen für die Zukunft des Bildungs-, Wissenschafts- und Innovationssystems ausgezeichnet.
- Dezember 2020: Planung der Kampagne rund um die Medieninstallation am 27.1.2021 in Berlin
« Meine Schüler*innen sahen eine hohe Sinnhaftigkeit in dem Projekt: ‚Sonst machen wir immer nur Sachen, bei denen klar ist, was rauskommt und die machen wir nur für die Noten. Hier helfen wir wirklich jemandem mit unserer Arbeit!‘ Das Material war wunderbar durchdacht und schön aufgearbeitet. Für die Schüler*innen war das ein wirkliches Erfolgserlebnis! »
Julia Schweigart, Friedrich-Ebert-Gesamtschule Frankfurt
Unsere Zukunftspläne für das digitale Denkmal
#everynamecounts soll noch bekannter werden. Deshalb möchten wir das Projekt 2021 noch internationaler aufstellen. Bis 2025 sollen mithilfe der Freiwilligen alle Dokumente der Arolsen Archives online verfügbar sein. Nicht nur Schulklassen sollen sich mit dem Projekt beschäftigen – wir finden, dass #everynamecounts auch für Unternehmen und Institutionen geeignet ist. Deshalb möchten wir die Kampagne auch als Corporate Responsibility-Projekt anbieten und auf unterschiedliche Berufsgruppen ausweiten.
Die Medieninstallation, die an der Fassade der französischen Botschaft in Berlin gezeigt wurde, soll in verschiedenen Städten auf Wanderschaft gehen und für viele Menschen in ihrem direkten Umfeld sichtbar sein.