Wir blicken zurück: ein Jahr #everynamecounts!
Vor einem Jahr starteten wir unser Pilotprojekt #everynamecounts mit 1000 Schüler*innen. Seitdem ist viel passiert: mehr als 10 000 Freiwillige haben sich registriert und beteiligen sich an der Eingabe der Daten von NS-Verfolgten. Mit ihrer Hilfe konnten die Daten von über 2,5 Millionen Dokumenten eingegeben werden. Und unsere Community tauschte sich in 55 000 Nachrichten über #everynamecounts aus.
Der stellvertretende Archivleiter, Giora Zwilling, blickt mit uns zurück auf das erste Jahr von #everynamecounts. Als Leiter des Teams „Bestände und Workflows“ überblickt er die Bestände unseres Archivs und steuert den Bau der Workflows, d.h. der Dokumentenpakete zur Indizierung. Im Interview erzählt er von den Zielen des Projektes, von überraschenden Entwicklungen und verrät uns, wie es jetzt weitergeht.
Schauen wir nochmal auf den Anfang von #everynamecounts: wie entstand die Idee zum Projekt?
Die Idee entstand, weil wir die einmaligen Dokumente, die bei den Arolsen Archives aufbewahrt werden, so vielen Menschen wie möglich zugänglich machen wollen. Daher veröffentlichen wir sie nach und nach in unserem Online-Archiv. Allerdings ist ein digitalisiertes Dokument zunächst einmal nichts anderes, als einfach nur ein Bild. Erst durch die Verknüpfung mit den entsprechenden Schlagworten ist es möglich, das Dokument zu finden.
Es ist unser Ziel, bis zum Jahr 2025 die Verknüpfungen zwischen Namen und Dokumenten für das gesamte Archiv abzuschließen. Jeder Name, der auf einem Dokument der Arolsen Archives verzeichnet ist, soll bei einer einfachen Online-Suche gefunden werden!
Die Crowdsourcing-Initiative #everynamecounts ist ein wichtiges Mittel, um dies zu erreichen.
Wie funktioniert das Projekt konkret?
Wir arbeiten mit „Zooniverse“, einer von der University of Oxford und dem Adler Planetarium in Chicago geschaffenen, frei zugänglichen Plattform für Citizen-Science-Projekte. Wissenschaftler*innen verschiedener Fachrichtungen finden hier die Unterstützung von Freiwilligen bei der Auswertung ihrer Daten.
Die Arolsen Archives laden ausgewählte Dokumente hoch und bitten die Freiwilligen darum, unterschiedliche Daten einzugeben. Die Erfassung ist sehr intuitiv über eine vorgegebene Maske möglich. In kurzen, leicht verständlichen Texten erhalten die Freiwilligen Unterstützung bei der korrekten Eingabe. Für weitere Rückfragen gibt es ein Forum, das von Kolleg*innen moderiert wird.
Um welche Daten handelt es sich genau?
Am wichtigsten sind natürlich der Name und das Geburtsdatum. Aber auch die Haftkategorie, die letzte Adresse oder der Beruf sind bedeutende Informationen, mit deren Hilfe später die Schicksale einzelner Personen, aber auch größerer Gruppen rekonstruiert werden können.
Auf vielen Dokumenten sind zum Beispiel auch die Namen der Eltern von Inhaftierten verzeichnet. Besonders bei jüdischen Personen können wir davon ausgehen, dass auch die Eltern zum Kreis der Verfolgten gehörten, deren Namen möglicherweise an keiner anderen Stelle erwähnt werden. Dadurch werden diese Informationen natürlich umso wertvoller.
Und wie viele Namen wurden bisher erfasst?
Das lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht genau sagen, da die Dokumente sehr vielfältig sind. In einigen Workflows wurden Dokumente zu einzelnen Personen eingegeben. Da jedoch das Papier gegen Kriegsende knapp wurde, kommt es vor, dass eine Karte für eine zweite Person „recycelt“ wurde. Bei den Listen ist die Spanne noch größer: auf einigen sind 20 Namen verzeichnet, auf anderen 150. Eine genaue Zahl können wir erst nach der abgeschlossenen Auswertung und Qualitätsprüfung der Daten nennen.
Wie können Fehler bei der Datenerfassung ausgeschlossen werden?
Die Freiwilligen arbeiten sehr gewissenhaft. Viele ziehen weitere Quellen hinzu, wenn sie sich zum Beispiel bei der Schreibweise eines Namens oder eines Orts nicht sicher sind. Dennoch können Fehler nie ausgeschlossen werden. Bevor ein Dokument als fertig bearbeitet gilt, muss es daher von drei verschiedenen Personen erfasst werden. So entstehen drei Datensätze, die miteinander verglichen werden können. Abweichungen fallen bei der Qualitätskontrolle auf und können geprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Erst dann werden die Daten in unsere Datenbank hochgeladen, die unserem Online-Archiv zugrunde liegt.
Das Projekt wurde vor einem Jahr gestartet. Was hat Sie am meisten überrascht?
Am 27. Januar 2020 haben wir ein Pilotprojekt mit rund 1000 Schüler*innen aus Hessen durchgeführt. Dieser Tag hat bereits deutlich gemacht, welches Potential das Projekt hat.
Dennoch hätte keiner von uns damit gerechnet, mit welcher Gewissenhaftigkeit und Hingabe die Freiwilligen bei #everynamecounts mitarbeiten würden. Einige Freiwillige arbeiten seit Projektbeginn fast jeden Tag im Projekt mit. Ein Blick in die Dokumente macht deutlich, was sie hierbei leisten: um eine schwer lesbare Liste mit 100-150 Namen abzutippen, brauchen Sie sicher zwei Stunden Arbeit. Und jede dieser Listen wird ja dreimal eingegeben…
Die Qualität der Daten ist sehr hoch! Die Freiwilligen nutzen ihre Sprach- und Ortskenntnisse, um Fehler in den Dokumenten zu korrigieren. Außerdem teilen sie zusätzliche Informationen zu den einzelnen Personen. So ist nicht nur unser Online-Archiv ein digitales Denkmal. Auch das Forum ist als Teil dessen bereits jetzt für viele ein zentraler Gedenkort geworden.
Und noch eine Frage zum Schluss: Wie geht es mit #everynamecounts weiter?
Seit dem Launch im April ist das Projekt im Internet auf Deutsch und Englisch frei zugänglich. Rund 10 000 registrierte Freiwillige arbeiten mit.
Wir möchten #everynamecounts noch einmal bekannter machen. Gerade bereiten wir eine internationale Kampagne vor, die ab Januar 2021 in mehreren Ländern starten wird. Hierfür soll das Projekt in weitere Sprachen übersetzt werden. Außerdem entwickeln wir eine entsprechende Lernanwendung, mit der zum Beispiel in Schulen die Arbeit im Projekt vor- und nachbereitet werden kann.
Wir freuen uns, dass wir mit #everynamecounts schon jetzt Menschen erreichen konnten, die sich vorher nie mit dem Thema NS-Verfolgung auseinandergesetzt haben. Sie können aktiv werden und einen ganz praktischen und sehr sinnvollen Beitrag zum Gedenken leisten.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Giora!