Bis heute wundert sich Emmie Arbel jeden Tag, dass sie überlebt hat. Als 5-Jährige haben die Nationalsozialisten sie aus ihrem Leben gerissen und in die Lager Westerbork, Ravensbrück und Bergen-Belsen deportiert. Im Alter von siebeneinhalb Jahren wurde sie befreit und musste als Waise ein neues Leben beginnen. Heute arbeitet sie gemeinsam mit der Künstlerin Barbara Yelin an einer Graphic Novel.

Die Zusammenarbeit ist Teil des Forschungsprojektes „Narrative Art and Visual Storytelling in Holocaust and Human Rights Education“ der kanadischen University of Victoria und vielen internationalen Kooperationspartnern. Gefördert wird das Projekt durch den Social Sciences and Humanities Research Council of Canada (SSHRC). Derzeit entstehen im Rahmen des Projekts drei verschiedene Graphic Novels.

Im Interview sprechen Emmie Arbel, Barbara Yelin und Projektleiterin Charlotte Schallié über die Entstehung eines der Bücher.

 

Welche Bedeutung hat dieses Projekt für Sie?

Emmie Arbel: Dieses Projekt macht es möglich, viele Kinder und Jugendliche zu erreichen. Sie lesen nicht gerne Bücher, aber umso lieber Comics. Wir können dadurch auch Lehrer*innen helfen, mit ihren Schüler*innen über dieses Thema zu sprechen.

Barbara Yelin: Ich finde es ungeheuer wichtig und gleichzeitig eine große Verantwortung, Emmie Arbels Erinnerungen zu erzählen. Ihre Geschichte hat mich während des vergangenen Jahres immer wieder intensiv begleitet, obwohl es im Vergleich zu meinen bisherigen Büchern gar nicht so lang ist vom Seitenumfang.

Charlotte Schallié: Für mich sind die persönlichen Begegnungen zwischen den Überlebenden und den Künstler*innen von zentraler Bedeutung. Die künstlerische Umsetzung schafft gleichzeitig Nähe wie auch durch die zeichnerischen Verfremdungseffekte Distanz. Dieser Kontrast schafft eine Spannung, die für die Erinnerungsarbeit sehr produktiv sein kann. Denn in der bildhaften Sprache können auch Erlebnisse und Erfahrungen dargestellt werden, die in der persönlichen Erinnerung nicht mehr abrufbar sind. In Barbara Yelins Graphic Novel gewinnen dadurch insbesondere Emmies Nicht-Erinnerungen — die Leerstellen in ihrer Vergangenheit — eine unglaublich starke und eindrucksvolle Präsenz.

 


Fotomaterial aus Emmies Kindheit. Copyright Martin Friedrich

 


Skizzen aus der Graphic Novel. Copyright Martin Friedrich

 

Ist Emmie Arbels Geschichte überhaupt erzählbar?

Barbara Yelin: Ich gebe Emmie Arbels Geschichte ausschließlich in ihren eigenen Worten wieder. Sie hat eine ungeheuer starke Stimme, an der ich nichts verändert habe, sondern nur ausgewählt. Die Bilder begleiten ihre Worte. Manche Schilderungen sind sehr erschütternd, und ich habe beim Zeichnen festgestellt, dass ich manches nicht im Detail zeigen kann, denn man könnte das Anschauen nicht ertragen.

Dann versuche ich zeichnerisch Ausschnitte zu zeigen, die erzählen, was geschieht, die aber das Geschehene dabei nicht verfälschen. Ich habe auch immer Emmie Arbels Gegenwart, also den Moment des Erzählens, zwischen die Erinnerungen gewoben. Denn gerade der Blick aus dem Heute macht im Kontrast die Ungeheuerlichkeit des von ihr Erlebten und Erlittenen im Holocaust besonders eindrücklich.

 

Ist die Darstellungsform einer Graphic Novel besonders dafür geeignet, diese Geschichte zu erzählen?

Barbara Yelin: Die Form des Comics oder der Graphic Novel ist generell ein Erzählformat, das die Leser*innen sehr einbinden kann. Die Kombination des Lesens von Bildern, Dialogen, Erzähltexten und Informationstexten, die im Kopf verbunden werden, fordert die starke Beteiligung der Leser*innen heraus. Das Lesen evoziert damit nicht nur das Kennenlernen der Geschichte, sondern trägt im Nachhall im besten Fall die Erschütterung, das Nachdenken und die Auslotung weiterer Fragen in sich mit.

 


Die Illustratorin Barabra Yelin besuchte Emmie Arbel in Israel. Copyright Gilad Seliktar

 

Sie haben sich auch persönlich für das Buch getroffen, doch an einige Erlebnisse kann sich Emmie Arbel nicht erinnern. Wie konnten fehlende Informationen ergänzt werden?

Barbara Yelin: Ich habe mich natürlich über Emmies Lebensgeschichte informiert, soweit diese festgehalten ist, und über die damit verknüpften Orte und historischen Ereignisse so viel wie möglich gelesen. Entscheidend waren aber die persönlichen Treffen mit Emmie Arbel selbst. Wir hatten einige Tage, um miteinander über ihre Erinnerungen zu sprechen. Darin ging es um ihre Erinnerung an die Kindheit, die Deportation, das Überleben in drei Konzentrationslagern, die Befreiung, die Nachkriegszeit, und auch um ihr Leben bis heute. 

Ausgehend davon habe ich weiter recherchiert, zum Beispiel im Archiv der Gedenkstätte Ravensbrück, in Erinnerungen anderer Überlebender, darunter die Erinnerungen ihres ältesten Bruders Menachem Kallus. Sehr wichtig waren die Dokumente der Arolsen Archives, geradezu Episoden, an die Emmie Arbel sich nicht oder nur ausschnitthaft erinnert. Eine große Hilfe war die Arbeit der research assistants, die das Projekt an verschiedenen Instituten begleiten, in meinem Falle vom IfZ München.

 


Emmies DP-2-Karte, die von den Alliierten nach Kriegsende zur Registrierung von Displaced Persons ausgestellt wurde.

 

Wie gelingt es Ihnen, Erlebnisse darzustellen, an die Emmie Arbel keine Erinnerung hat?

Barbara Yelin: Ich denke, die zeichnerische Annäherung als sequentielle Narration kann vor allem zwei Dinge gut zeigen. Emmie Arbels frühe Erinnerungen sind Bilder, wie sie selbst sagt. Diese Bilder kann ich aufzeichnen.  Schwarze Panels können traumatische Stellen sichtbar machen. Und ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Referenz-Bilder ja gar nicht existieren. Es gibt kein fotografisches Bildmaterial aus den Konzentrationslagern Ravensbrück und Bergen-Belsen. Die wenigen Ausnahmen sind Fotografien aus Sicht der Täter*innen-Seite. 

Wir erstellen also, tatsächlich miteinander – mit Emmies Erinnerungen und ihr im Gespräch, basierend auf dem Recherchematerial, und meinen Zeichnungen – Bilder, die es bisher nicht gibt.

 


Copyright Martin Friedrich

 

Wie ist für Sie, Emmie, Ihre eigene Geschichte in gezeichneten Bildern zu sehen?

Emmie Arbel: Als ich das erste Mal hörte, dass ich in Comics zu sehen sein werde, mochte ich die Idee nicht. Aber je länger ich darüber nachdachte, begann ich es zu verstehen und jetzt denke ich, dass es ein großartiges kreatives Projekt ist.

 

Welches Ziel möchten sie mit dieser Publikation erreichen?

Emmie Arbel: Das wichtigste daran ist für mich, dass diese schrecklichen Jahre niemals vergessen werden und zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert – denn wenn es in Deutschland geschah, kann es überall auf der Welt geschehen.  Wenn der Comic viele Kinder, die die Erwachsenen der Zukunft sein werden, davon überzeugen kann, dann weiß ich, dass ich es geschafft habe … oder es zumindest versucht habe.

Charlotte Schallié: Die Graphic Novels sollen nach der Veröffentlichung im Schulunterricht verwendet werden. Alle dazugehörigen Lehr- und Zusatzmaterialien werden für Lehrer*innen, Holocaust Educators und Forscher*innen frei zugänglich sein und wir möchten über den Prozess der Zusammenarbeit Vorträge und Workshops halten sowie einen Best Practice-Leitfaden anbieten.

 

Vielen Dank an Emmie Arbel, Barbara Yelin und Charlotte Schallié für das Interview. Die drei Graphic Novels erscheinen im Frühjahr 2022, herausgegeben von den Verlagen C.H. Beck und New Jewish Press

 

 

 

 

 

 

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