Antisemitismus: "Die Zeiten von Wohlfühlkampagnen sind vorbei"

Zwischen dem zweiten Jahrestag des Anschlags auf die Synagoge in Halle und dem 83. Jahrestag der Novemberpogrome sollen die Bildungs- und Aktionswochen der Amadeu Antonio-Stiftung einmal mehr zeigen: Antisemitismus ist kein Erbe des Nationalsozialismus und präsenter denn je. Wir haben mit Projektleiter Nikolas Lelle darüber gesprochen, warum Initiativen wie diese immer noch so wichtig sind.

1.909 antisemitische Angriffe meldete der Bundesverband der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus e.V. (RIAS) für das Jahr 2020. Mit den Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus möchten die Amadeu Antonio-Stiftung und das Anne Frank Zentrum auch deshalb ein klares Zeichen setzen – mit über 150 Veranstaltungen in ganz Deutschland und der bundesweiten Plakatkampagne „Shalom Deutschland“.

Im Interview erzählt Projektleiter Nikolas Lelle, der mit seinem Team die Bildungs- und Aktionswochen koordiniert, warum wir Initiativen wie diese mehr denn je brauchen – und was jede*r von uns tun kann, um ein*e gute*r Verbündete*r zu sein.

 

 

Gemeinsam gegen Antisemitismus und Judenfeindlichkeit

Am 9. Oktober sind eure Bildungs- und Aktionswochen gestartet – würdest du sagen, dass sie jetzt noch notwendiger sind als 2003, als sie zum ersten Mal stattfanden?

Das würde ich auf jeden Fall sagen. Gerade rund um die 9/11-Thematik ging es zwar damals schon los mit Verschwörungserzählungen, aber wenn wir so überlegen, wie die letzten Jahre verliefen, dann sehen wir verschiedene Ereignisse, die eine Rolle in dieser Entwicklung spielen: Zum Beispiel 2012 die Beschneidungsdebatte. Wenn man mit Jüdinnen und Juden spricht, war das für sie ein riesiger Game Changer, weil da plötzlich ihre Religion und ihr Sein auf die Probe gestellt worden ist. Die nächste Zäsur waren auf jeden Fall 2014 die Gaza-Proteste.

Und dann kommt schon 2020 würde ich sagen, mit den Corona-Demos. Und nicht zu vergessen, im Mai dieses Jahres auch die Anti-Israel-Demos, vor allem in Nordrhein-Westfalen und Neukölln. Deshalb würde ich sagen – und das werden auch die Zahlen von RIAS bestätigen – dass sich in den letzten drei Jahren Antisemitismus offener und ungehemmter gezeigt hat und die Leute immer skrupelloser auf die Straße gehen. Ich glaube, so etwas wie diese „Ungeimpft“-Sterne hätte es in dem Ausmaß vor fünf Jahren nicht gegeben.

 

Ein offenbar mutwillig zerstörtes Plakat der „Shalom Deutschland“-Kampagne in Frankfurt am Main

 

Ich habe gelesen, dass auch schon „Shalom Deutschland“-Plakate eurer Aktionswochen abgerissen wurden. War das etwas, womit ihr gerechnet habt im Vorfeld? 

Ehrlich gesagt rechnet man mit sowas, ja. Wir haben plakatiert in Berlin, Hamburg, Rostock, Stuttgart, Frankfurt, Köln, Dresden und Aue. In Aue, weil dort so viele Querdenkendemos waren. Am Ende kennt man die Story dahinter nicht. Ehrlich gesagt finde ich es aber nicht so überraschend, dass sich jemand an Plakaten zu schaffen macht, auf denen groß „Shalom“ steht.

Aber: Die Zeiten von Wohlfühlkampagnen sind einfach vorbei und irgendwie muss man versuchen, auf den Tisch zu hauen und klarzumachen, dass Antisemitismus 1.000 Baustellen hat. Von unseren Verbündeten haben wir ganz viel positives Feedback für die Plakate bekommen, zum Beispiel vom Zentralrat der Juden in Deutschland oder auch jüdischen Gemeinden. Die sind ganz begeistert, dass wir uns das trauen – denn sie können sich nicht so in die Schusslinie stellen, wie wir das tun. 

 

Ihr schreibt zur Kampagne oft: Es muss sich gehörig etwas ändern. Was wäre für dich das erste, was sich ändern müsste?

Hier müsste man jetzt so viele Sachen sagen. Das erste, worauf wir auch mit der Kampagne hinweisen wollen, ist aber: Antisemitismus ist nicht nur ein rechtes Problem oder ein Problem von Muslim*innen oder ein linkes Problem. Es gibt einfach wahnsinnig viele Milieus, die es sich immer dann raussuchen, Antisemitismus zu skandalisieren, wenn es um die Anderen geht. Man kann Antisemitismus aber nur bekämpfen, wenn man das alles im Blick hat und alle diese verschiedenen Erscheinungsformen von Antisemitismus bekämpft. Und dazu gehört auch der israelbezogene Antisemitismus, dazu gehört auch der in islamistischen Milieus, aber eben auch der von Neonazis. Oder der Antisemitismus der Mitte, der im letzten Jahr auf diesen Querdenken-Demos seine Fratze gezeigt hat. Das wäre wichtig: Antisemitismus ernst zu nehmen, als gesamtgesellschaftliches Problem, das wir nur gemeinsam bekämpfen können. 

 

»Der Antisemitismus von damals ist halt nicht weg und es ist wichtig, deutlich zu machen: Wir haben ein Problem und das müssen wir gemeinsam angehen.«

Nikolas Lelle, Projektleiter Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus

 

Stichwort „gemeinsam“: Ihr arbeitet ja auch für die Aktionswochen mit vielen anderen Initiativen zusammen. Was ist dein Eindruck, wie entwickelt sich da aktuell der Wille, sich zu engagieren? 

Das ist echt interessant: Also 2020 war ja für alle ein verrücktes Jahr. Im Herbst hatte ich das Gefühl, dass bei ganz vielen Leuten die Luft etwas raus war und es gab weniger ehrenamtliches Engagement. Da waren alle einfach mit etwas anderem beschäftigt als zum Beispiel für einen AStA einen Vortrag zu organisieren. Das ist dieses Jahr komplett anders. Ich glaube das hat bestimmt auch etwas mit dem Festjahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zu tun, aber auch damit, dass alle gerade aus dem Lockdown aufgewacht sind. Das führte dazu, dass wir wieder richtig viele Anfragen hatten – viel mehr, als wir überhaupt annehmen konnten. 

 

Etwas tun: Antisemitische Vorfälle melden

Wie kann ich als Einzelperson eine gute Verbündete oder ein guter Verbündeter für Jüdinnen und Juden in Deutschland sein? 

Natürlich gibt es die klassischen Wege: Veranstaltungen und Workshops organisieren und dadurch aufklären. Aber wichtig ist auch: Wenn man antisemitische Vorfälle mitbekommt, diese zu melden, zum Beispiel bei RIAS. Das hilft schon wahnsinnig viel, weil es ein realistisches Bild vom antisemitischen Alltag in Deutschland liefert. Die Dunkelziffer ist super hoch. Viele Vorfälle werden nicht gemeldet und können dadurch nicht ins Blickfeld gerückt werden.

 

Wie können wir als Arolsen Archives noch mehr gegen Antisemitismus tun? 

Erstmal jüdischen Stimmen und Perspektiven Sichtbarkeit verleihen. Und das gilt jetzt nicht nur für die Arolsen Archives, sondern für alle, die auf eine Art Gedenkstätten oder Dokumentationszentren in Deutschland sind, aber: Ich habe das Gefühl, dass sich viele davon ein bisschen raushalten, wenn es um aktuelle Politik geht. Viele Dokumentationszentren machen wahnsinnig gute Arbeit in der Holocaust-Forschung und NS-Aufarbeitung und vielleicht auch ein bisschen in den Debatten der Erinnerungspolitik, aber der Antisemitismus von damals ist halt nicht weg und es ist wichtig, dass auch solche Organisationen das Wort ergreifen und immer wieder versuchen, deutlich zu machen: Wir haben ein Problem und das müssen wir gemeinsam angehen.

Die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus finden noch bis um 9. November statt – unter anderem mit der langen Nacht des digitalen Denkmals: Am Jahrestag der Novemberpogrome wollen wir gemeinsam mit Studierenden, Universitäten und Fachhochschulen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern und ein Zeichen für Respekt, Vielfalt und Demokratie setzen. Mach mit!

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