Englischsprachiges Material für Geschichtslehrer*innen jetzt online verfügbar

Die Geschichte der NS-Verfolgung im russischen Teil der Sowjetunion steht im Mittelpunkt einer neuen Broschüre der Arolsen Archives. Die Bildungsmaterialien präsentieren ausgewählte Dokumente über ehemalige KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter*innen und Displaced Persons. Die Vermittlung der NS-Verbrechen erfolgt über die persönlichen Verfolgungsschicksale dieser Menschen. Das Material ist aufbereitet für den internationalen Einsatz im Geschichtsunterricht und in der Projektarbeit mit Jugendlichen.

Die 56-seitige Broschüre mit dem Titel „Fragments of a Life – Educational Material on Victims and Survivors of Nazi Persecution from Soviet Russia“ ist ab sofort online verfügbar. Sie wurde gemeinsam mit dem Russischen Forschungs- und Bildungszentrum für die Geschichte des Holocaust in Moskau entwickelt. Neben der englischen Version erscheint im Frühjahr auch eine russischsprachige Fassung. Diese wird zusätzliche Verweise auf russischsprachige Online-Ressourcen und ein Glossar mit Begriffserläuterungen enthalten.

Im Interview sprechen Henning Borggräfe und Elisabeth Schwabauer von den Arolsen Archives über die Materialsammlung, die Bedeutung von Kooperationen im Bildungsbereich und künftige Projekte.

 

Die Arolsen Archives veröffentlichen die neuen Bildungsmaterialien für Pädagog*innen in englischer und erstmals auch in russischer Sprache. Warum ist das wichtig?

 

Elisabeth Schwabauer

Es gibt einen hohen Bedarf an solchen Bildungsmaterialien in Russland. Das Thema Holocaust ist dort erst seit etwa fünf Jahren Teil der Lehrpläne. NS-Zwangsarbeit wird im Geschichtsunterricht kaum behandelt. Lehrerinnen und Lehrer benötigen deshalb gut aufbereitetes Material zu diesen Themen. Bedarf besteht aber auch für außerschulische Bildungsprojekte. Das haben wir gemeinsam mit unserer Partnerorganisation jetzt erarbeitet.

 

Henning Borggräfe

Hinzu kommt, dass wir auch exemplarische Geschichten von Displaced Persons in das Material aufgenommen haben. Diese Menschen standen als Rückkehrer in der Sowjetunion lange unter dem pauschalen Verdacht der Kollaboration mit den Nationalsozialisten. Das ist ein geschichtspolitisch durchaus noch kontroverses Terrain. Die Broschüre gibt hier Anstöße für Lerngruppen, sich zu informieren und selbst zu forschen.

 

Die Bildungsmaterialien sollen den Nutzer*innen eine rasche Vorbereitung von Unterrichtseinheiten und auch die Arbeit in einem Projekt ermöglichen. 

Elisabeth Schwabauer, Pädagogische Mitarbeiterin

 

Warum war es wichtig, das Material gemeinsam mit einem Partner zu erarbeiten?

 

Borggräfe

Die gemeinsame Erarbeitung ermöglichte uns eine produktive Auseinandersetzung mit verschiedenen erinnerungskulturellen Perspektiven. Das war ein wichtiger Lernprozess für alle Beteiligten. Es wäre nicht sinnvoll, die bisherigen Ansätze unserer Einrichtung einfach auf das Schulsystem eines anderen Landes übertragen zu wollen.

Schwabauer

Wir haben dank der Kooperation mit dem Moskauer Partner auch ein besseres Bild vom Wissensstand der adressierten Zielgruppen und konnten Inhalte und Methoden anpassen. Die Bildungsmaterialien sollen den Nutzer*innen eine rasche Vorbereitung von Unterrichtseinheiten und auch die Arbeit in einem Projekt ermöglichen. Da ist es wichtig, dass alles passt. Und nicht zuletzt hat unser Partner eine hervorragende Präsenz mit über 34 Regionalbüros in Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, universitären Anbindungen und Kontakten in das Schulsystem. Das steigert die Effizienz unserer Arbeit enorm, dafür sind wir sehr dankbar.

 

Was unterscheidet das neue Material von vorhandenen didaktischen Ansätzen?

 

Borggräfe

Wir stellen Originaldokumente und Biografien konkreter Menschen aus unserem Archivbestand an den Anfang der inhaltlichen Auseinandersetzung. Damit bieten wir Quellen an, die für gewöhnlich in Schulbüchern kaum vorkommen. Das Archivmaterial bietet mehr Möglichkeiten als die sonst häufig in Lernbüchern verwendeten historischen Zeitungsartikel, Reden berühmter Personen oder Karikaturen. Der Zugang ist direkter, es gibt mehr zu entdecken, herauszufinden und zu interpretieren.

Wir stellen Originaldokumente und Biografien konkreter Menschen aus unserem Archivbestand an den Anfang der inhaltlichen Auseinandersetzung.

Dr. Henning Borggräfe, Abteilungsleiter Forschung und Bildung

 

Ihr nennt diese Herangehensweise in der Broschüre den „archivpädagogischen Ansatz“.

 

Borggräfe

Genau. Wir stoßen an und ermöglichen, dass die Lerngruppen selbst quellenkritisch forschen und entdecken. Teil des Erkenntnisziels ist dabei übrigens, dass die Überlieferungen zu den Schicksalen von NS-Opfern oft lückenhaft und teils auch widersprüchlich sind. Das zeigt: die Geschichte ist nicht einfach da. Historische Entwicklungen und Sachverhalte müssen erst rekonstruiert und die Quellen hierfür interpretiert werden. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Opfer des Nationalsozialismus stärker in den Fokus zu rücken.

 

Schwabauer

Der archivpädagogische Ansatz regt auch an zu weiterführenden Recherchen, etwa im Online-Archiv der Arolsen Archives oder in den Lokalarchiven, sowie zur Nutzung von Tools wie unseres e-Guide, der übrigens in Kürze auch in einer russischen Version zur Verfügung stehen wird. So werden nicht nur historische Fakten gelernt, sondern auch Recherchekompetenzen gefördert. Das ist in der Bildungsarbeit in Russland eher Neuland und wir freuen uns, gemeinsam mit dem Partner vor Ort jetzt Angebote für die Lehrkräfte machen zu können.

 

Die Broschüre ist der Auftakt zu einer neuen internationalen Reihe. Was ist noch geplant?

 

Borggräfe

Wir erweitern den Fokus unserer Bildungsmaterialien, der bislang vor allem auf dem deutschsprachigen Raum lag. Die neue Reihe wird zweisprachig erscheinen, auf Englisch und in der jeweiligen Landessprache einer Partnerorganisation. Im Mittelpunkt stehen stets Dokumente der Arolsen Archives, etwa zu bestimmten Verfolgtengruppen oder Ländern. Das Material ist jeweils umfassend aufbereitet und ohne aufwändige Vorbereitungen unmittelbar einsetzbar. Wir richten uns damit ausdrücklich auch an außerschulische Lerngruppen. Die nächste Veröffentlichung planen wir gemeinsam mit dem Fußballverein Borussia Dortmund. Sie wird es Fans und anderen Interessierten ermöglichen, die nationalsozialistische Verfolgung von Fußballspielern aus verschiedenen europäischen Ländern kennenzulernen und zu erarbeiten.

 

Der Geschichtswissenschaftler Dr. Henning Borggräfe (henning.borggraefe@arolsen-archives.org) ist Abteilungsleiter Forschung und Bildung der Arolsen Archives. Elisabeth Schwabauer (elisabeth.schwabauer@arolsen-archives.org) ist pädagogische Mitarbeiterin der Abteilung.

 

 

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