Bereits in den ersten Tagen nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald begannen Fotografen des US Army Signal Corps die dortigen Zustände zu dokumentieren. Wenige Monate später dienten 28 der zwischen dem 21. und dem 24. April 1945 aufgenommenen Fotografien im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als Beweismaterial („Exhibit B-1“).

Dazu wurden sie in der Größe 10x13 cm einzeln auf Papier geklebt, durchnummeriert und mit der Überschrift „Photographs taken at Buchenwald Konzentration Lager Weimar, Germany April 1945“ versehen. Auf der Rückseite beglaubigte ein US-amerikanischer Ermittlungsoffizier jede einzelne Aufnahme.

 

Nur eine Handvoll Ausfertigungen dieses als „confidential“ (vertraulich) klassifizierten Beweisstückes sollen im Nürnberger Gerichtssaal kursiert sein. Das in den Arolsen Archives aufbewahrte Exemplar trägt den Zusatz „Set No. 5“ und enthält teils handschriftliche Vermerke. Wir wissen jedoch wenig über die genaue Entstehung der Bilder und die einzelnen Fotografen, geschweige denn von den Gefühlen der Überlebenden im Moment der Aufnahme. Auch ist heute nicht mehr zu rekonstruieren, auf welchem Weg die Fotomappe nach Arolsen kam.

 

Neben befreiten Männern, Jugendlichen und Kleinkindern, die in- und außerhalb der Baracken des sogenannten Kleinen Lager zu sehen sind, dokumentiert die Fotoreihe Foltermethoden der SS, die von Buchenwald-Überlebenden an menschengroßen Puppen vor der Kamera nachgestellt wurden. Insgesamt zeigen die Bilder detailliert alle Grausamkeiten, auf die die US-amerikanischen Alliierten bei der Befreiung des Lagers stießen.

 

Ganz anders das abgebildete Foto. Darauf sind vier Männer in weißen Kitteln zu sehen, die – so die Anmerkung auf der Bildrückseite – „in one of the hospital buildings“ einen befreiten Häftling behandeln. Sie befinden sich im OP-Saal des ehemaligen SS-Reviers. Das Bild zeigt keine Verbrechen, sondern dokumentiert, wie gut ausgestattet der Operationssaal eigentlich war. Der Einzige, dessen Namen und Identität wir kennen, ist der Tscheche Miloslav Matoušek (3.v.r.). Bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo am 1. September 1939 in Prag hatte er als Internist und Geburtshelfer gearbeitet und sich bei einer Menschenrechtsorganisation engagiert. Bereits Ende September kam der 39-Jährige als politischer Häftling nach Buchenwald. Auch wenn die rote Farbe auf dem Schwarz-Weiß-Bild verloren ging, ist der Winkel an seinem Arztkittel deutlich sichtbar. Ab August 1942 wurde Matoušek vom Lagerarzt als Pfleger im Häftlingskrankenbau eingesetzt. Nach der Befreiung schrieb er einen Aufsatz über seine Erfahrungen und das Handeln der SS-Ärzte, das jeder medizinischen Ethik widersprach. Buchenwald through a doctor’s eyes erschien im Juni 1946 in Prag, nur wenige Monate vor der Urteilsverkündigung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.

 

Auch wenn die Fotos des „Exhibit B-1“ im Nürnberger Prozess als Beweis für die Verbrechen im Konzentrationslager dienten, erlaubt das Bild des OP-Saals keinen direkten Rückschluss auf die medizinischen Zustände im KL Buchenwald. Wie auch die anderen 27 Aufnahmen zeigt es einen ganz bestimmten Ausschnitt aus der Zeit nach der Befreiung des Lagers. Seine Relevanz für den Gerichtssaal erschließt sich aus dem Anblick der modernen Ausstattung des OP-Saals. Die SS-Ärzte sorgten sich jedoch nicht um die Gesundheit der Häftlinge. Vielmehr leisteten sie ihren Beitrag zur Selektion und zum Mord und führten medizinische Experimente durch.

 

Nach 1945 gingen auch in anderen befreiten Konzentrationslagern aufgenommene Fotografien um die Welt. In jüngster Zeit versuchen Historiker*innen ihre Entstehungskontexte wiederherzustellen und den abgebildeten Überlebenden einen Namen zu geben.

 

(Kim Dresel, Arolsen Archives, Referat Archivische Erschließung)

 

 
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