In Melanie Haarmanns Familie wurde wenig über Ernst Egon, den Bruder ihres Opas gesprochen: „Der ist im Krieg gefallen“, hieß es. Dann erhielt sie einen Brief vom International Tracing Service (ITS): Die persönlichen Gegenstände, die ihrem Großonkel bei der Einlieferung in das Konzentrationslager Neuengamme abgenommen wurden, befänden sich beim ITS. Als nächste noch lebende Angehörige von Ernst Egon Haarmann könne sie diese entgegennehmen. „Die Nachricht hat mich irritiert und ich fragte mich: Konzentrationslager – habe ich denn jüdische Angehörige?“ beschreibt Melanie Haarmann ihre erste Reaktion.

Aber das NS-Regime verfolgte Menschen aus vielen Gründen. In den ersten Jahren nach der Machtergreifung Hitlers waren Konzentrationslager vor allem ein Mittel, um politische Gegner der Nationalsozialisten auszuschalten. Aber auch Menschen, deren Verhalten nicht dem „gesunden nationalsozialistischen Volksempfinden“ entsprach, gerieten in den Fokus der Verfolgung. Himmler erklärte die „Ausmerzung des Verbrechertums“ zu einem vorrangigen Ziel. Sogenannte „Berufsverbrecher“ konnten in „polizeiliche Vorbeugungshaft“ genommen werden – ohne Prozess oder Verurteilung. Es reichte aus, dass einem Menschen ein „verbrecherischer Wille“ unterstellt wurde.

Wann und warum Ernst Egon Haarmann verhaftet wurde, lässt sich aus den Dokumenten des ITS nicht rekonstruieren. Im Juni 1935 befand er sich im Strafgefangenenlager IV Walchum, einem der berüchtigten Emslandlager. Die meisten der Gefangenen dort waren für kriminelle Delikte verurteilt und mussten zur Gewinnung landwirtschaftlicher Nutz- und Siedlungsflächen unter bewusstem Verzicht auf Maschineneinsatz bis zu zehn Stunden täglich Schwerstarbeit im Moor verrichten. Hinzu kam die seelische und körperliche Misshandlung durch das Wachpersonal.

Anfang August 1936 wurde Ernst Egon Haarmann nach Köln überführt. Über die folgenden fünf Jahre gibt es im Archiv keine Informationen. Ab 1941 war er für kurze Zeit in verschiedenen Haftanstalten: im Zuchthaus Siegburg, in den Gefängnissen Bochum, Bonn und Münster. Als Straftaten werden in den Dokumenten „Betrug“ und „Beleidigung“ genannt. Er galt als mehrfach vorbestraft und damit im NS-Rechtssystem als „Berufsverbrecher“. Als Ernst Egon Haarmann am 16.4.1943 in das Konzentrationslager Neuengamme eingeliefert wurde, nahm man ihm Armbanduhr, Zigarettenetui, Krawattennadel und Ehering ab – seine Frau Paula war inzwischen von ihm geschieden.

Er erhielt die Gegenstände nie zurück. Damit sie nicht den vorrückenden Briten in die Hände fielen, trieben die Wachleute die verbleibenden Häftlinge Ende April 1945 aus Neuengamme Richtung Lübeck. Dort verteilte man sie auf mehrere Schiffe. Die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“ wurden von der britischen Luftwaffe für deutsche Truppentransporter gehalten und in der Lübecker Bucht am 3.5.1945 versenkt. Vermutlich kam Ernst Egon Haarmann hierbei ums Leben.

Die Stigmatisierung von Angehörigen als „Berufsverbrecher“, „Asoziale“ oder „Schädlinge der Gesellschaft“ wirkte in vielen Familien über das Kriegsende hinaus. Möglicherweise war dies der Grund, warum in Melanie Haarmanns Familie kaum über den Großonkel gesprochen wurde. Sie selbst hat keine Berührungsängste gegenüber dem Schicksal von Ernst Egon. Der Erhalt seiner persönlichen Gegenstände hat sie neugierig gemacht und ist für sie Anlass, weitere Details zu diesem Kapitel der Familiengeschichte herauszukriegen: „Es ist spannend, wie sich plötzlich die Geschichte meiner Familie mit der ‚großen Geschichte‘ verbindet.“

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