„Die beste Oma“: Großmutters Geschichte bei #everynamecounts

Karoline Steinbach wäre am 8. November 100 Jahre alt geworden und ist das große Vorbild ihrer Enkelin Jeanette. Die Nationalsozialisten verfolgten Karoline als „Zigeunerin“, doch sie überlebte die Haft in den Konzentrationslagern und wurde 94 Jahre alt.

Mit der Crowdsourcing-Initiative #everynamecounts helfen uns Tausende von Freiwilligen dabei, die 30 Millionen historischen Dokumente aus den Arolsen Archives zu digitalisieren und so weltweit in unserem Online-Archiv zugänglich zu machen. Bei #everynamecounts mitmachen bedeutet, sich aktiv an die Verfolgten des Nationalsozialismus zu erinnern und ihnen ein digitales Denkmal zu bauen.

Eine der Freiwilligen ist Jeanette Montebello: Sie interessiert sich seit ihrer Schulzeit für Geschichte. Besonders auch, weil ihre Großmutter ihr als Jugendliche häufig von ihrem eigenen Schicksal erzählt hat. Die Geschichte ihrer Oma wollte Jeanette aufarbeiten und wandte sich an die Arolsen Archives. So stieß sie auch auf #everynamecounts und war begeistert von der Idee.

 

»Jedes Schicksal dieser schlimmen Zeit ist es wert, erzählt zu werden.«

Jeanette Montebello, Enkelin der Holocaust-Überlebenden Karoline Steinbach

 

Eine digitale Spurensuche

Auf der #everynamecounts-Plattform erfassen die Freiwilligen nicht nur Informationen wie Namen oder Orte auf den digitalisierten Dokumenten. Sie diskutieren auch über die Schicksale der Verfolgten, tragen Informationen aus anderen Archiven und ihr eigenes Wissen zusammen.

Auf dieses Diskussionsforum stieß Jeanette bei der Suche nach Dokumenten zu ihrer Großmutter, deren Schicksal ihr durch die vielen Erzählungen aus der Kindheit bekannt war. Unter einem Scan von Karolines Häftlingspersonalkarte tauschten sich die Nutzer*innen über bekannte Stationen ihres Verfolgungsweges und weitere Angehörige von Karoline aus. Jeanette konnte durch ihren Blogbeitrag das gesammelte Wissen bestätigen und auflösen, wie das Leben ihrer Großmutter nach der Befreiung weiterging.

 

Häftlingspersonalkarte von Karoline Steinbach aus dem Konzentrationslager Auschwitz

 

Eine junge Familie in Auschwitz

Karoline Steinbach wurde am 8. November 1922 im rheinhessischen Gau-Köngernheim geboren. Als sie 20 Jahre alt war, verhafteten die Nationalsozialisten sie, ihren Mann Karl und ihr Baby Karl-Heinz. Das nur wenige Monate alte Kind versuchte sie vor der Deportation ihrer Mutter zu geben und nahm anstelle des Sohnes ein Kissen in den Arm. Die Nazis bemerkten dies jedoch und zwangen sie dazu, Karl-Heinz in das Lager mitzunehmen.

 

Karoline Steinbach vor der Inhaftierung in das Konzentrationslager Auschwitz. Auf dem Bild war sie vermutlich zwischen 16 und 18 Jahre alt.

 

Die Nationalsozialisten deportierten die junge Familie in das sogenannte „Zigeunerlager“ des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Innerhalb eines Jahres starben ihr Mann und ihr Sohn – laut den Dokumenten in den Arolsen Archives angeblich an Typhus und Influenza.

 

Die Sterbeurkunde, ausgestellt vom KZ-Arzt, nennt Typhus als vermeintliche Todesursache von Karl, Karolines Ehemann. Der Tod ist auf den 20. Dezember 1943 datiert.
Luftaufnahme des Abschnitts B II e des Konzentrationslagers Auschwitz (Foto: Britische Regierung, Wikimedia Commons).

Das „Zigeunerlager“ des KZ Auschwitz

Von Februar 1943 bis August 1944 hielten die Nationalsozialisten im Abschnitt B II e im KZ Auschwitz Menschen gefangen, die sie als „Zigeuner“ kategorisierten. Darunter fielen Personen, die Sinti*zze und Romn*ja waren oder solche als Vorfahren hatten. Über 20.000 von ihnen wurden ermordet oder starben aufgrund der Haftbedingungen.

 

Karoline überlebte vier Konzentrationslager

Karoline war mehr als ein Jahr im KZ Auschwitz inhaftiert. 1944 transportierten die Nationalsozialisten sie zunächst in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, dann in das KZ Buchenwald. Zuletzt musste sie Zwangsarbeit leisten: Für die Hugo Schneider AG (HASAG) in Altenburg, einen der größten nationalsozialistischen Rüstungskonzerne, arbeitete sie bis zur Befreiung.

 

Karolines Häftlingspersonalkarte aus dem Konzentrationslager Ravensbrück. Die Nationalsozialisten nahmen ihren Namen auf vielen Dokumenten falsch auf.

 

Karoline war ein Familienmensch

Nach der Befreiung reiste Karoline allein nach Worms, ihr letzter Wohnort vor der Inhaftierung. In ihre alte Wohnung konnte sie nicht mehr, weil dort nun ihre ehemaligen Nachbar*innen wohnten. Auch erfuhr sie, dass die Nationalsozialisten ihren Bruder ermordet hatten. Doch ihre Eltern und viele andere Familienmitglieder hatten die NS-Verfolgung überlebt und nahmen sie in Worms auf.

Karoline heiratete kurz nach dem Krieg Ludwig Söhner. Mit ihm bekam sie zwei Töchter, eine davon die Mutter von Jeanette. Mit ihrem dritten Ehemann Friedrich Schott brachte sie weitere sechs Kinder zur Welt. Karolines Familie wuchs bis zum Ende ihres Lebens auf 24 Enkelkinder, doppelt so viele Urenkelkinder und sogar fünf Ururenkel an. Kurz vor ihrem 95. Geburtstag starb sie.

 

»Sie liebte es, wenn ihre kleine Wohnung überfüllt mit ihren Kindern und Enkelkindern war. Sie brauchte das für ihr Wohlbefinden, denn so fühlte sie sich glücklich.«

Jeanette Montebello, Enkelin der Holocaust-Überlebenden Karoline Steinbach

 

Ein Leben ohne Krieg und Hunger

Über ihre Großmutter sagt Jeanette: „Sie war die beste Oma, die es gab und einer der tolerantesten Menschen, die ich kannte. Sie nahm jeden so wie er war, ohne Vorurteile. Nach dem Krieg schwor sie sich, nie mehr zu frieren oder Hunger zu leiden. Trotz der Verfolgung hatte sie noch ein zufriedenes Leben bis zu ihrem Tod. Familie war alles für sie.“

Manchmal erzählte Karoline ihren Kindern und Enkel*innen von ihrem Lebensabschnitt als Verfolgte. In den 1980er Jahren besuchte sie sogar das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau. Der Ort brachte schlimme Erinnerungen in ihr hervor und ließ sie während des Besuches zusammenbrechen.

 

Ihren Geburtstag feierte Karoline immer groß und im Kreise der Familie.

Dokumente erzählen Lebensgeschichten

Jeanette selbst ist die Erinnerung an das Leben ihrer Großmutter und der vielen anderen Verfolgten sehr wichtig. Das Engagement von ihr und den Tausenden Freiwilligen bei #everynamecounts trägt dazu bei, dass auch andere Menschen Dokumente zu den Schicksalen ihrer Angehörigen finden können.

Setz ein Zeichen für Respekt, Vielfalt und Demokratie und mach mit bei #everynamecounts!

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