Die verlorene Tochter: Familienzusammenführung in Polen
Fast 80 Jahre hat es gedauert, bis sie sich kennenlernen durften: Die 79-jährige Maria aus Polen wusste bis vor kurzem nicht, dass sie Geschwister in Deutschland hat. Ihre jüngere Schwester Ursula dagegen war mit den Erinnerungen ihrer Mutter an Maria aufgewachsen. Die hatte die verlorene Tochter lange gesucht und Zeit ihres Lebens vermisst. Dank der Recherchen eines polnischen Heimatforschers und mit Unterstützung der Arolsen Archives konnten die Schwestern sich nun zum ersten Mal virtuell treffen.
Maria und Ursula sitzen mit ihren Familien vor den Bildschirmen. Ein paar hundert Kilometer trennen sie. Und die Technik trennt sie auch. Jemand muss bei der Verbindung zum Online-Meeting helfen, die Kamera einrichten, den Ton einschalten. Damit sich die Schwestern gegenseitig bestmöglich sehen können, wenn sie sich zum ersten Mal kennenlernen. Sehen sie sich ähnlich?
Gertrud musste ohne ihre Tochter fliehen
Ursula, die jüngere Schwester, lebt in Deutschland. Ihre Schwester Maria kennt sie nur vom Foto in der Geldbörse ihrer Mutter, Gertrud Koch. Maria sieht Gertrud heute sehr ähnlich, das erkennt Ursula sofort. „Mein Brigittilein“ sagte die Mutter immer, wenn sie über ihre erste Tochter sprach: Sie hatte Maria am 7. Dezember 1942 in Breslau auf die Welt gebracht und ihr den Namen Brigitte gegeben. Aber Gertrud verlor Brigitte Ende 1944 bei einem Bombenalarm aus den Augen und musste kurz darauf aus der Stadt fliehen. Sie fand ihre Tochter trotz intensiver Suche nie wieder.
Aus Brigitte wurde Maria
Brigitte war in ein Waisenhaus gekommen und später von einer polnischen Familie adoptiert worden. Aus Brigitte wurde Maria. Marias Adoptiv-Vater, ein Anwalt, hatte ihren Namen kurz vor der Adoption sogar noch in „Brigida Widiger“ ändern lassen, um alle Spuren ihrer Herkunft zu verwischen. Als Maria 18 wurde, erzählten ihr die Eltern allerdings, dass sie adoptiert worden war. Gleichzeitig sagte der Vater zu ihr: „Suche nicht nach Informationen, du wirst nichts finden.“
Heimatforscher recherchiert über mysteriöses Waisenhaus
Dass Maria schließlich doch noch ihre wahre Identität aufdecken konnte, hat sie auch dem Heimatforscher Dariusz Giemza aus Polen zu verdanken. Er recherchiert seit einigen Jahren über die mysteriöse Geschichte des früheren Waisenhauses seiner Heimatstadt Duszniki Zdrój (früher: Bad Reinerz, Schlesien), in dem Maria untergebracht war. Dariusz hat zahlreiche Informationen und Dokumente zusammengetragen, um die wahre Herkunft der Kinder aus dem Heim ans Licht zu bringen.
»Die Geschichte dieser Kinder aufzudecken, ist für mich eine Lebensaufgabe geworden, die mich zu unglaublichen Entdeckungen geführt hat. Es waren viele Jahre harter Arbeit mit schlaflosen Nächten und dem Durchforsten von Dutzenden Archiven.«
Dariusz Giemza, Heimatforscher aus Duszniki Zdrój
Neue Informationen über die leibliche Mutter
Marias Tochter las einen Zeitungsartikel über Dariuszs Recherchen und meldete sich bei ihm. Sie hoffte, dass er auch etwas über die Herkunft ihrer Mutter wissen könnte. Gemeinsam stellten sie fest, dass „Brigida Widiger“ und „Brigitte Koch“ die gleiche Person sein mussten – auch das Geburtsdatum stimmte überein. Dariusz fand heraus, dass Marias leibliche Mutter Gertrud Koch nach Bayern geflohen war. Im Dezember 2020 wandten sich Maria und Dariusz an die Arolsen Archives, um Informationen über Gertrud zu finden.
»Mit Hilfe der Behörden wurden meine persönlichen Daten gefälscht und neue Dokumente für mich ausgestellt. Meine richtige Mutter Gertrud Koch hat mich gesucht. Aber ich selbst konnte keine Informationen einholen, weil ich keine Adoptionsurkunde habe.«
Aus Marias Anfrage bei den Arolsen Archives
Die Arolsen Archives fanden Marias jüngere Schwester
Weil sich die Arbeit der Arolsen Archives auf die Opfer der NS-Verfolgung konzentriert, finden sich kaum Informationen über Deutsche aus dem heutigen Polen in unserer Sammlung. Dennoch gab es ein aufschlussreiches Dokument, mit dem sich unser Tracing-Team auf Spurensuche machen konnte: Auf einer Liste von Kindern, die sich 1945/1946 in dem Waisenhaus in Duszniki Zdrój befanden, war Brigitte aufgeführt – und Gertruds damalige Adresse in Bayern. Mit diesem Anhaltspunkt konnten wir über die deutschen Behörden ihre zweite Tochter ausfindig machen, Marias jüngere Schwester Ursula. Maria und Ursula begannen, mit unserem Team zu schreiben und zu telefonieren. Sie schickten Bilder und teilten ihre Geschichten und Erinnerungen. Schließlich nahmen sie direkten Kontakt zueinander auf und vereinbarten ihr erstes Treffen per Videokonferenz.
„Meine Mutter hat Brigitte immer vermisst“
Ursula ist mit den Erinnerungen ihrer Mutter an „Brigittilein“ aufgewachsen. Dass sie die vermisste ältere Schwester tatsächlich einmal treffen würde, hätte sie nicht für möglich gehalten. Wir haben sie gefragt, was ihre Mutter über Brigitte/Maria erzählt hat und wie es sich anfühlt, dass das Rätsel um die verlorene Schwester endlich gelöst ist.
Wann haben Sie zum ersten Mal von Ihrer Schwester in Polen erfahren?
Ich wusste schon immer, dass ich noch eine ältere Schwester habe, die in Polen zurückbleiben musste. Und dass wir nach ihr suchen. Meine Mutter habe ich in meiner Kindheit oft traurig und nachdenklich erlebt. Wenn ich sie gefragt habe, was los sei und sie trösten wollte, hat sie immer gesagt: „Ach, ich vermisse mein Brigittilein so sehr.“ Es gab auch noch ein Kinderfoto von Brigitte. Das hatte meine Mutter immer bei sich.
Was hat Ihre Mutter über Brigitte erzählt?
Es fiel ihr schwer, über Brigitte und die Zeit in Breslau zu sprechen. Von ihr selbst wusste ich nur, dass sie als junge Frau mit meinem Großvater in Breslau wohnte. Sie hatte sieben Geschwister, die alle auch dort lebten, aber schon ausgezogen waren. Ihre Mutter war verstorben. Brigitte kam mitten im Krieg zur Welt, am 7. Dezember 1942 – da war meine Mutter 31 Jahre alt. Wenn ich sie nach unserem Vater fragte, erzählte sie nur, dass er im Krieg verschollen sei. Brigitte hat sie immer als ihren „Sonnenschein“ und als ein fröhliches Kind beschrieben.
Bombenalarm: Alle Kinder weg
Wie kam es dazu, dass Ihre Mutter Ihre Schwester zurücklassen musste?
Sie brachte Brigitte tagsüber in eine Krippe, um arbeiten zu gehen. Meine Mutter war Verkäuferin in einem Feinkostladen. Der Besitzer gab ihr auch immer Lebensmittel – deshalb war sie trotz der Mangelzustände im Krieg gut versorgt.
Eines Abends im November oder Dezember 1944 standen die Mütter vor der Krippe und alle Kinder waren verschwunden – einfach weg. Man sagte den Müttern, ihre Kinder seien wegen eines Bombenalarms in Sicherheit gebracht worden. Meine Mutter und mein Großvater haben fieberhaft nach Brigitte gesucht. Aber es blieb nicht mehr viel Zeit: Im Januar 1945 flüchteten sie vor der Roten Armee. Da war meine Mutter bereits hochschwanger mit mir.
Sie selbst wurden also schon in Deutschland geboren?
Richtig – nach sechs Wochen Flucht ist meine Mutter in einem kleinen bayerischen Dorf auf einem Bauernhof gelandet. Dort konnte sie wohnen und bekam auch etwas zu essen, aber dafür musste sie auch sehr hart arbeiten. Auf diesem Hof bin ich am 26. März 1945 auf die Welt gekommen. Später sind wir zu Verwandten ins Sauerland gezogen.
Wie hat Ihre Mutter nach Brigitte gesucht?
Über das Deutsche Rote Kreuz und auch mit Hilfe von Verwandten, die ebenfalls hierher geflüchtet waren. Aber es war schwierig, nach dem Krieg überhaupt etwas Verlässliches über die Vermissten in Polen zu erfahren. Das Rote Kreuz hat die Suche nach 20 Jahren jedenfalls ohne jedes Ergebnis eingestellt.
Familienzusammenführung durch die Arolsen Archives
Dann haben sie von den Arolsen Archives erfahren, dass Brigitte doch noch gefunden wurde…
Das hat mich sehr überrascht. Ich bin dankbar, dass ich über diese Geschichte jetzt doch noch reden darf. Denn meiner Mutter musste ich schwören, dass ich von ihrer ersten Tochter niemandem erzähle. Das Versprechen habe ich gehalten, bis vor ein paar Monaten die erste Nachricht über Brigitte kam. Es tat gut, mit den Leuten von den Arolsen Archives über sie zu sprechen. Und endlich konnte ich auch meiner eigenen Tochter von ihrer Tante in Polen erzählen. Aber es macht mich auch traurig, dass meine liebe Mutter das nicht mehr erleben durfte. Sie hätte alles dafür gegeben – bis zu ihrem Tod 1994 hat sie ihre Brigitte vermisst.
Wie war das erste Kennenlernen?
Sehr aufregend. Ich habe ja vorher noch nie eine Video-Konferenz gemacht. Eine Freundin, die ursprünglich aus Polen kommt, konnte mir bei der Technik und mit der Sprache helfen. Dass ich kein Polnisch kann und Brigitte kein Deutsch, ist natürlich schade. Wir werden immer Übersetzer brauchen. Trotzdem war mir recht schnell klar, dass das wirklich meine Schwester sein muss. Es gibt so viele Ähnlichkeiten und Parallelen – vom Aussehen über das Musiktalent bis zu den schlimmen Krampfadern, die meine Mutter uns vererbt hat. Eigentlich war geplant, dass wir noch einen DNA-Test machen. Aber ich bin mir jetzt so sicher, dass ich fast glaube, wir brauchen das nicht mehr.
Wie geht es weiter?
Ein aufregendes Jahr liegt hinter Maria, Ursula und ihren Familien. Auch ihre Kinder, Nichten, Neffen und Freunde freuen sich über die neuen Kontakte. Sie planen bereits ein persönliches Treffen. Eventuell wird es schon im Frühjahr 2022 in Polen stattfinden. Vielleicht werden sich die Schwestern sogar in Wrocław (früher: Breslau) in dem Haus treffen, das Brigitte früher mit ihrer Mutter Gertrud und dem Großvater bewohnte.
Auch Dariusz Giemza wird weiterhin mit den beiden in Kontakt bleiben. Er ist froh, dass er gemeinsam mit den Arolsen Archives ein weiteres Familienrätsel rund um das Waisenhaus in seinem Heimatort lösen konnte. Und es gibt weiterhin viele Schicksale zu klären: Über 200 Namen von Kindern mit falscher Identität stehen auf Dariusz Liste. Wir werden weitersuchen!