Du musst nicht betroffen sein, damit Dich etwas angeht!
Unser Projekt „Jeder Name zählt“ lebt von Freiwilligen – inzwischen sind es über 8000, die in ihrer Freizeit die persönlichen Daten NS-Verfolgter von Dokumenten der Arolsen Archives abschreiben und damit digital auffindbar machen. Auch wer nur einen einzigen Namen eingibt, leistet einen wertvollen Beitrag gegen das Vergessen.
Doch einige unserer Freiwilligen gehen weit darüber hinaus: Sie nutzen ihre Sprach- und Ortskenntnisse, um Namen von Personen und Orten zu korrigieren. Sie recherchieren und teilen zusätzliches Wissen oder helfen sich gegenseitig beim Entziffern schwer lesbarer Handschriften.
Einer von ihnen ist Fernando Gouveia aus Portugal. Durch die Mitarbeit bei „Jeder Name zählt“ kam er auf die Idee, Dokumente aus den Arolsen Archives bei „Wiki-Commons“ hochzuladen. Er recherchiert und korrigiert auf Basis der Dokumente falsche Informationen in der Online-Enzyklopädie. Wir haben ihn nach der Motivation für sein Engagement gefragt.
Seit wann arbeitest Du als Freiwilliger im Projekt #jedernamezaehlt mit?
Ich habe am 15. Mai begonnen, im Projekt mitzuarbeiten.
Wie hast Du von dem Projekt erfahren?
Ich mache seit 2019 bei Zooniverse mit und erhalte regelmäßig Updates zu neuen Projekten. Als ich über dieses Projekt gelesen habe wusste ich, dass ich Teil davon sein muss.
Du gehörst zu einer Gruppe von Freiwilligen, die sehr intensiv im Projekt arbeiten. Aber Du schreibst, dass Du keinen persönlichen (Familien-)Bezug zu dem Thema hast. Was motiviert Dich, so viel von Deiner Zeit zu investieren?
Es stimmt, ich habe keine direkte Verbindung zum Thema oder zum zweiten Weltkrieg allgemein: mein Land (Portugal) war nicht beteiligt. Auch keine Familienmitglieder von mir. Ich gehöre auch keiner der Gruppen an, die von den Nazis angegriffen wurden. Aber Dinge sollten Dir nicht persönlich widerfahren müssen – oder der Gruppe, der Du angehörst (welche auch immer das sein mag) – damit Du Dich verantwortlich fühlst.
Geschichte interessiert mich im Allgemeinen. Der Zweite Weltkrieg mit seiner unvorstellbaren, industriellen Dimension von menschlichem Leid, aber auch mutigen Beispielen von Widerstand und Tapferkeit, von Engagement und Selbstaufopferung, interessiert mich seit Jahrzehnten persönlich.
Du tust viel mehr als wir in dem Projekt verlangen. Zum Beispiel hast Du eine detaillierte Tabelle erstellt, in der die Abkürzungen für die Religion der Inhaftierten aufgeschlüsselt werden. Du recherchierst zusätzliche Informationen zu den Personen auf den Dokumenten, aktualisierst Wikipedia-Artikel und lädst Dokumente bei Wikimedia hoch. Woher kam die Idee hierzu?
Aus meiner früheren Erfahrung bei Zooniverse wusste ich, dass Hashtags nützlich sein können. Ich habe damit begonnen, Nationalitäten zu taggen, als ein anderer Freiwilliger sagte, er suche nach spanischen Häftlingen, die möglicherweise im gleichen Lager wie sein Großvater waren. Danach kamen die Religionen. Die Schaffung einer systematischen Liste war ein Weg, meine eigenen Notizen zu organisieren und, wenn möglich, andere dazu zu bewegen, das Gleiche zu tun.
Ich begann aus einem ganz praktischen Grund, weitere Informationen über Häftlinge herauszusuchen: manchmal hast Du Zweifel beim Entziffern der Handschrift oder es gibt widersprüchliche Informationen. Und Du möchtest sicher sein…
Die Sache mit Wikipedia begann, als ein Freiwilliger die Karte von Prinz Xavier of Bourbon-Parma fand und seine Wikipedia-Seite verlinkt hat: sie zitierten eine Biographie, die sich „Dachau Häftlingsnummer 156270“ nannte – aber die Karte belegte, dass seine Nummer 101057 war! Ich musste den Eintrag korrigieren. Also fragte ich das Forscherteam, ob ich das Bild bei Wikimedia hochladen darf. Und so hat es begonnen.
Was ist für Dich das Besondere an dem Projekt?
Die Tatsache, dass die Opfer als Individuen betrachtet werden. Oft behandeln wir sie, wenn auch unbeabsichtigt, als Masse: „Soundso vielen Millionen starben; soundso vielen wurden deportiert“.
Gibt es ein Dokument, das Du bearbeitet hast, das Dich besonders berührt hat?
Es gibt viele erschütternde Geschichten. Aber mir kommt Adolf Lande in den Sinn: Er war österreichischer Jude, ein internationaler Rechtsexperte zum Thema Drogen. Seine Biographie bei Wikipedia besteht nur aus vier Sätzen, nichts zu seiner Inhaftierung. Sogar ein Buch, das ihn erwähnt, gibt (irreführenderweise) an, dass er „nach dem Anschluss durch Europa nach Amerika floh“, als ob Dachau und Buchenwald nie stattgefunden hätten. Er verbrachte drei Monate in jedem Lager, aber offensichtlich wussten die Menschen, die später mit ihm arbeiteten, nichts davon. Ich vermute, dass er das Thema vermied. Wahrscheinlich wünschte er sich, dass er wirklich gleich nach dem Anschluss gegangen wäre.
Gibt es etwas, das Du Dir von uns wünschst?
Macht weiter so! Ein verbessertes Suchwerkzeug wäre großartig.