„Meine Frau sah ich nicht mehr, die war verschwunden in der Menge. Meinen Sohn sah ich auch nicht mehr, der war verschwunden in der Menge, aber meine kleine Tochter […] hatte einen roten Mantel und dieser rote Punkt, der immer kleiner wurde, so verschwand meine Familie aus meinem Leben.“ 60 Jahre danach steht diese Aussage immer noch für einen der Schlüsselmomente des Eichmann-Prozesses.

So beschrieb Martin Földi am 25. Mai 1961 den Moment, in dem er im April 1944 seine Familie für immer verlor. Er war einer von 110 Zeugen, die im sogenannten Eichmann-Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann aussagten. Földis Aussage beschreibt einen Schlüsselmoment des Prozesses – aus Sicht des stellvertretenden Staatsanwaltes Gabriel Bach.

 

»Meine Tochter Orli war genau zweieinhalb Jahre alt und ich hatte ihr zwei Wochen vorher einen roten Mantel gekauft. Als der Zeuge das erzählte, und ich hörte es zum ersten Mal, über diesen kleinen roten Punkt, da konnte ich plötzlich keinen Ton herausbekommen.«

Gabriel Bach, Stellvertretender Staatsanwalt während des Eichmann-Prozesses

Auch 60 Jahre später, erinnert sich Gabriel Bach noch genau an diese Situation. Jedes Mal, wenn der heute 94-Jährige in Interviews über den „Prozess seines Lebens“ spricht, erzählt er die Geschichte des Mädchens mit dem roten Mantel, die ihm besonders in Erinnerung geblieben ist. Heute lebt Bach in Jerusalem. Als 11-Jähriger schafften er und seine Familie es kurz vor der sogenannten Reichspogromnacht im November 1938, aus Deutschland in die Niederlande zu fliehen und überlebten den Zweiten Weltkrieg in Palästina. Anders als den Bachs, gelang es der Familie Földi nicht, vor den Nationalsozialisten zu fliehen.

Gabriel Bach während des Prozesses gegen Adolf Eichmann, Jerusalem, 1961. United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Eli M. Rosenbaum

„Ich konnte in dem Moment nicht lügen.“

Der Jurist Martin Földi lebte mit seiner Frau Erzsebet und den Kindern Anna und Gyorgy im ungarischen Kaschau, dem heutigen slowakischen Košice, bis die Nationalsozialisten sie am 21. April 1944 deportierten. Direkt nach der Ankunft in Auschwitz wurden die Földis selektiert und getrennt. Erzsebet und die siebenjährige Anna wurden in die Gruppe der Frauen und Kinder getrieben, Martin und der 12-jährige Gyorgy in die andere Gruppe.

Dr. Martin Földi während der Zeugenaussage. Credit: Courtesy the Ghetto Fighters‘ House Museum, Israel/ The Photo Archive
Ungarische Jüdinnen in Auschwitz-Birkenau 1944. Credit: Yad Vashem

„Dann sagte man uns: Männer und Jungen ab vierzehn Jahren nach rechts, Frauen und alle anderen Kinder nach links. Wir sahen die Frauen gehen, während wir noch standen. Irgendwann waren sie fast verschwunden. Ich stand da mit meinem nur zwölf Jahre alten Sohn.“

 

Hinweis: Wir vermuten, dass es in der Aufzeichnung von Martin Földis Aussage einen Übersetzungsfehler gibt. Anstatt „Dann sagte man uns: Männer und Jungen ab vier Jahren nach rechts, Frauen und alle anderen Kinder nach links.“ muss es heißen: „Dann sagte man uns: Männer und Jungen ab vierzehn Jahren nach rechts, Frauen und alle anderen Kinder nach links.“

Kurz danach wurden auch Vater und Sohn auseinandergerissen. In Auschwitz selektierten die deutschen Besatzer zwischen in ihren Augen arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Menschen. Frauen mit jüngeren Kindern und alte Personen galten als arbeitsunfähig und wurden direkt in den Gaskammern ermordet.

„Als wir losgingen, sah ich einen Mann in deutscher Uniform. […] Dann fragte er mich: Wie alt ist Ihr Sohn? Ich konnte in dem Moment nicht lügen und sagte, er sei zwölf. Und dann fragte er: Wo ist die Mutti? Dann sagte ich: Sie ist links gegangen. Also sagte er: Lauf zur Mutti.“

 

Die Häftlingspersonalkarte von Dr. Martin Földi

Die Videoaufnahme von Martin Földis Aussage im Eichmann-Prozess ist ein bewegendes Zeugnis für den Holocaust. Die Recherche in unserem Archiv und in Yad Vashem dokumentieren das Schicksal der Familie. Drei Fotos von Erzsebet und den Kindern, die Martin Földi dem Archiv von Yad Vashem zur Verfügung stellte, geben heute noch Aufschluss, wer die Menschen hinter dieser tragischen Geschichte waren.

 

Der Holocaust in der Weltöffentlichkeit

Der Prozess weckte großes mediales Interesse und durch die Aussagen hunderter von Zeugen geriet der Holocaust in das öffentliche Bewusstsein. Das Gericht sprach Adolf Eichmann am 15. Dezember 1961 schuldig. Der „Organisator des Holocaust“ wurde in der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 1962 in Israel gehenkt.

Staatsanwalt Gabriel Bach vermutet, dass die emotionale Aussage von Martin Földi und die Stelle, in der er über seine Tochter, als dem kleinen roten Punkt sprach, die Macher des Films „Schindlers Liste“ dazu inspirierte, ein kleines Mädchen mit rotem Mantel im Warschauer Ghetto zu zeigen.

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