Eine Künstlerin auf den Spuren ihrer Familie
Im Jahr 2016 findet die britische Künstlerin und Fotografin Sara Davidmann das Fotoalbum ihrer Tante Susi, zusammen mit ein paar handgeschriebenen Notizen auf Deutsch. Auf den Fotos zu sehen: das Leben von Susi und ihrem Bruder Manfred (Saras Vater), vor und nach dem Holocaust. Um ihre Familiengeschichte weiter aufzuarbeiten hat Sara Davidmann die Fotos – unter anderem zusammen mit Dokumenten aus den Arolsen Archives – in dem Buch “Mischling 1” und der Ausstellung “My name is Sara” in London veröffentlicht.
Frühe Seiten des Fotoalbums zeigen ein ganz normales, glückliches Familienleben: Urlaub am Meer, Hochzeiten, Ausflüge. Das letzte Foto in Deutschland wurde 1941 aufgenommen; weitergeführt wurde das Album erst 1946 in Großbritannien. Beim Durchblättern fällt Sara Davidmann auf: “Viele der Personen auf den frühen Fotos tauchten später nicht wieder auf. Ich begann, nach Spuren ihres Lebens zu suchen.”
Ihre Recherche bringt sie auch in die Arolsen Archives. Zwei Tage verbringt sie im Archiv in Bad Arolsen und fotografiert Dokumente, die Auskunft über das Schicksal ihrer Familie geben. Darunter auch Transportbescheide für ihre Großtante Marta nach Auschwitz und ihre Urgroßmutter Dorothea nach Theresienstadt. Obwohl sie diese Zeugnisse zum größten Teil bereits kannte und sie viele Male an ihrem Computer betrachtet hat, ist sie überrascht davon, wie stark es sie berührt, die Original-Dokumente ihrer Familie zu sehen.
»Diese Dokumente in den Händen zu halten, mit ihren Falten und Rissen, die Schreibmaschineneindrücke zu spüren, die Unterschriften und handgeschriebenen Häkchen neben den Namen der Menschen zu sehen – ich hätte mir nicht vorstellen können, welche Wirkung das auf mich haben würde.«
Sara Davidmann
Ihr Vater Manfred und seine Schwester Susi – zu dem Zeitpunkt 14 und 17 Jahre alt – überlebten den Holocaust, weil sie bereits 1939 mit einem Kindertransport von Berlin nach Großbritannien fliehen konnten. Schon wenige Tage nach den Novemberpogromen setzten sich dort einflussreiche Jüdinnen und Juden dafür ein, dass zumindest Kinder für eine Übergangszeit aufgenommen wurden; für Erwachsene wurden die strengen Einreisebestimmungen nicht gelockert. Insgesamt über 10.000 jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich, aber auch anderen bedrohten Ländern, konnten mit Zug und Schiff ausreisen. Untergebracht wurden sie dann entweder bei Verwandten, die meisten aber in Pflegefamilien und Heimen. Viele sahen ihre Eltern nie wieder: Die Kinder waren oft die einzigen Familienmitglieder, die den Holocaust überlebten.
Schmerzhafte Kapitel
Sara Davidmanns Vater sprach kaum über seine Erfahrungen als jüdischer Junge in Berlin: „Die traumatischen Ereignisse vor seiner Evakuierung, die Familienmitglieder, die ermordet wurden, die Evakuierung selbst – all das waren Kapitel seines Lebens, die zu schmerzhaft waren, um sie noch einmal aufzurollen. Ich wuchs mit sehr wenig Wissen über die deutsch-jüdische Seite meiner Familie auf, bis lange nach dem Tod meines Vaters.”
Sara Davidmanns Buch “Mischling 1” und die zugehörige Ausstellung waren nicht die ersten Versuche der Künstlerin, ihre Familiengeschichte zu verarbeiten: Ihr Projekt “Ken. To be destroyed” (2016) erzählte die Geschichte ihres Onkels Ken, der in der Geborgenheit seines Zuhauses als Frau leben konnte. Hazel, die Ehepartnerin der Transfrau, schrieb in den 1950/60er-Jahren Briefe an Sara Davidmanns Mutter und schildert darin die sehr intime Geschichte des ungewöhnlichen Paares.
Auf den Transportpapieren von Sara Davidmanns Urgroßmutter Dorothea und ihrer Großtante Marta wurde jeweils “Sara” als zweiter Vorname angegeben: Ab 1938 verlangte das “Namensänderungsgesetz” von allen deutschen Juden und Jüdinnen, die anhand ihrer Namen nicht sofort als jüdisch erkennbar waren, einen zusätzlichen Namen anzunehmen. Für Männer war das “Israel”, für Frauen “Sara” – der Name, der Sara Davidmann später auch von ihren Eltern gegeben wurde.
Sara Davidmanns Buch “Mischling 1” und die zugehörige Ausstellung “My name is Sara” enthalten neben Fotos, Zeitungsauschnitten und Dokumenten auch sogenannte Fotogramme, die mit alten Strähnen aus dem Haar der Künstlerin gemacht wurden: eine Verbindung zwischen der Rasur von KZ-Häftlingen und dem Leben in der Gegenwart.