Neben der alten Friedhofskapelle im nordhessischen Ihringshausen befindet sich ein Gräberfeld, das bisher wenig beachtet wird: Hier sind 32 Zwangsarbeiter*innen sowie Kinder von Zwangsarbeiter*innen beigesetzt. Seit längerer Zeit setzt sich die Anwohnerin Barbara Wagner dafür ein, dass hier ein angemessener Ort der Erinnerung geschaffen wird. Bisher ohne Erfolg.

Mit #ErinnernVorOrt haben die Arolsen Archives im Mai 2021 eine Initiative geschaffen, die lokale Erinnerungsorte sichtbarer machen soll. Denn die systematische Verfolgung von Millionen von Menschen fand überall statt, zum Beispiel auch im nordhessischen Ihringshausen, einem kleinen Ort mit etwas über 6.400 Einwohner*innen, wenige Kilometer von Kassel entfernt. Etwa 2.000 Menschen hielten die Nazis hier in Lagern fest und schickten sie von dort zur Zwangsarbeit. Doch in dem Ort erinnert heute kaum noch etwas daran.

Barbara Wagner stammt aus Kassel, lebt aber seit rund 30 Jahren in Ihringshausen und sagt: „Wenn man hier mit jemandem spricht, dann sind immer alle ganz erstaunt: Was denn, hier gab’s Zwangsarbeiter*innen?! Mir liegt es am Herzen, dass diese Menschen erinnert werden. Man muss keine Gedenktafel für alle 2.000 Leute aufstellen, aber zumindest die dort Bestatteten müssen ihre Namen bekommen.“

 

Das Foto zeigt den Grabstein der polnischen Zwangsarbeiterin Irena Pawlowicz. Die Schrift ist kaum noch lesbar, eine große Marienfigur ist eingefasst.
Der gut erhaltene Grabstein der polnischen Zwangsarbeiterin Irena Pawlowicz. Nur das früher vorhandene Foto ist nicht mehr an seinem Platz. (Foto: Barbara Wagner)
Das Foto zeigt den Grabstein der polnischen Zwangsarbeiterin Irena Pawlowicz. Die Schrift ist kaum noch lesbar, eine große Marienfigur ist eingefasst.
Diesem Dokument aus den Arolsen Archives ist die "Grave Location" von Irena Pawlowicz zu entnehmen: erste Reihe, Grab 2, Friedhof Ihringshausen.

Das Grabdenkmal von Irena Pawlowicz

Die Polin wurde 1942 als sogenannte Zivilarbeiterin im Fliegerhorst Eschwege eingesetzt – zu dem Zeitpunkt war sie gerade mal 15 Jahre alt. Ende Juni 1946 soll sie im Krankenhaus Lindenberg in Kassel-Bettenhausen an Gehirntuberkulose verstorben sein. In den Dokumenten zu ihrer Person finden sich teilweise abweichende Informationen zu ihrem Todesdatum. Sie habe zuletzt im „Polenlager Hasenheide“ in Kassel-Bettenhausen gewohnt.

 

In Ihringshausen wurden insgesamt 32 polnische und russische Zwangsarbeiter*innen bestattet, die zwischen dem 5. Februar 1943 und dem 23. Juni 1946 starben: Zwölf Männer, vier Frauen und 16 Säuglinge. „Eine Zwangsarbeiterin musste in der Regel bis zum letzten Tag ihrer Schwangerschaft arbeiten und am Tag nach der Geburt sofort wieder; wenn es ging sogar noch am selben Tag.“ Für die ehemalige Ärztin Barbara Wagner „einfach unvorstellbar“.

Die meisten Zwangsarbeiter*innen kamen erst nach Kriegsende zu Tode, unter anderem durch Tuberkulose, die sich durch schlechte Lebensbedingungen schnell unter ihnen verbreitete. Nur zwei Todesfälle der erwachsenen Opfer sind für 1943/44 verzeichnet: Bei ihnen handelte es sich laut Beurkundungen vor allem um „Unfälle“. So zum Beispiel der Tod der Zwangsarbeiterin Hanna Goloz, die 1943 im Alter von 45 Jahren in der Munitionsanstalt Ihringshausen starb; Todesursache: „Schädelbruch und innere Verletzungen hervorgerufen durch einen Betriebsunfall“.

 

Von „Seligem Angedenken“ kann keine Rede sein

Nur 18 der Opfer sind bisher auf dem Friedhof in Ihringshausen namentlich aufgeführt, doch teilweise nicht korrekt auf den Grabsteinen und –platten genannt. Viele Inschriften sind kaum noch zu lesen, erkennbar ist aber das große „SP“ auf allen Grabsteinen: die Kurzform des polnischen „Świętej Pamięci“, was wörtlich übersetzt so viel bedeutet wie „Seliges Angedenken“. Von „Seligem Angedenken“ kann für Barbara Wagner aber an diesem Ort keine Rede sein. „Die Grabsteine verfallen. Die Platten sind aus Sandstein, da bröckelt schon alles ab mittlerweile. Dann wird hier aber nur der Rasen gemäht und das war‘s. Alle Versuche, auch bei der Gemeinde, etwas zu tun, um diesen Zustand zu ändern, sind bisher ins Leere gelaufen.“

 

»Ohne die Dokumente der Arolsen Archives hätte ich das Ganze nie ans Licht bringen können.«

Barbara Wagner, Bewohnerin Ihringshausens

 

Barbara Wagner war im Zusammenhang mit einem Friedhofsprojekt des lokalen Ortsgeschichtsvereins mit den Gräbern der Zwangsarbeiter*innen vertraut. 2015 wandte sie sich an die Arolsen Archives, mit der Bitte, Informationen zu den Opfern herauszusuchen. Ans Licht kamen seitenlange Dokumente, die Auskunft über den Leidensweg der Zwangsarbeiter*innen geben. Im März 2020 kam es schließlich zu einem Treffen mit Vertreterinnen des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. sowie dem Bürgermeister des Ortes. Dabei wollte Barbara Wagner darüber sprechen, wie das Gräberfeld würdevoller gestaltet werden kann. „Unser Bürgermeister schlug vor, das Gräberfeld zu pflastern, ein paar Bänke hinzustellen und die Grabsteine nach hinten an die umfassende Hecke zu rücken. Den Damen vom Volksbund und mir sind alle Gesichtszüge entglitten, wir haben erstmal nur tief durchgeatmet.“

 

Eine Stele gegen das Vergessen

Barbara Wagner kontaktierte daraufhin den lokalen Grafiker Norbert Städele, der einen Entwurf für den Erinnerungsort erstellte. Seine Idee: Eine Stele mit den eingravierten Namen der Opfer, eingefasst mit einem kleinen Plattenweg. 2021 wurde der Vorschlag der Gemeinde präsentiert – wieder ohne Ergebnis. „Die Mühlen unserer örtlichen Bürokratie mahlen überhaupt nicht. Ich glaube, hier herrscht einfach totales Desinteresse“, schlussfolgerte Barbara Wagner.

Eine zentrale Stele: der Vorschlag des Grafikers Norbert Städele (Fotomontage)

 

In ihrem Engagement treibt Barbara Wagner auch ihr persönlicher Hintergrund an: Karl, der Cousin ihres Vaters, fiel im Krieg. „Irgendwo im Osten“, was ihren Vater bis ans Lebensende beschäftigte: „Er hatte immer dieses Foto von seinem Vetter Karl und das war für ihn etwas ganz Wichtiges. Ich denke, das ist für alle Angehörigen wichtig: Dass der Name ihres Liebsten oder ihrer Liebsten nicht verloren geht.“

 

Aus den Arolsen Archives: Die Sterbeurkunde von Heinrich Biskup. Er wurde nur 18 Tage alt.
Die Grabplatte mit dem Namen "Jezy Biskup". (Foto: Barbara Wagner)

Gestorben mit nur 18 Tagen

Heinrich bzw. Jerzy Biskup (beide Vornamen tauchen in Dokumenten auf) stirbt Ende Oktober 1944 kurz nach seiner Geburt, als Todesursache wird für ihn angegeben: „Lebensschwäche, Achtmonatskind“. Seine Eltern, Jan und Stanislawa Biskup, stammten aus Polen und waren als Zwangsarbeiter*innen im Enckelager in Ihringshausen. In der Nachkriegszeitkartei finden sich Dokumente, die auf eine Rückkehr der Familie nach Polen kurz nach der Geburt der Tochter Leonarda im Sommer 1946 schließen lassen.

 

Für das nächste Jahr wünscht sie sich, dass sich am Gräberfeld endlich etwas tut und „dass vielleicht 2022 am Volkstrauertag eine Veranstaltung an dieser Stelle stattfinden wird. Wo dann hoffentlich die Stele mit allen Namen zu sehen ist.“

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