„Es gibt ein sehr großes Bedürfnis nach Vernetzung und Austausch“

Die Arolsen Archives veranstalteten vom 2. bis 4. November 2020 die Online-Konferenz „Deportationen im Nationalsozialismus – Quellen und Forschung“. Interessante Vorträge und rege Teilnahme begeisterten die Organisatoren. Im Interview zieht Dr. Akim Jah, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Forschung und Bildung, ein positives Fazit.

Hallo Akim, welche Überlegungen haben den Anstoß zu der Tagung gegeben?

Vor dem Hintergrund der Neuscannung und Erschließung der Berliner Transportlisten in unserem Haus entstand die Idee, in einem Workshop einen Austausch zwischen Archiven und deren Nutzer*innen zu organisieren. Denn auch für uns Mitarbeitenden der Archive ist nicht immer auf den ersten Blick klar, was wo überhaupt und wo im Original liegt. Außerdem wollten wir diesen quellenbezogenen Zugang mit einer forschungsbezogenen Perspektive verbinden, relevante aktuelle Forschungsfragen aufgreifen und diese in einen übergreifenden Zusammenhang stellen. Herausgekommen ist unsere Online-Konferenz, die vor allem durch die Vorträge und Diskussionsbeiträge der anwesenden Forscher*innen mit Leben gefüllt wurde. Ich habe viele neue Eindrücke mitgenommen.

 

Wie würdest Du die Resonanz auf die Tagung beschreiben?

Die vielen Anmeldungen und die aktive Beteiligung von so vielen haben unsere Erwartungen bei weitem übertroffen! Die drei Konferenztage haben gezeigt, dass es viele Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen und mit unterschiedlichen Hintergründen gibt, die an diesem Thema interessiert sind, und viele interessante neue Forschungen und Quellenzugänge mitbringen –darunter auch Nachkommen der Betroffenen. Es gibt ein sehr großes Bedürfnis nach Vernetzung und Austausch. Die eigentlich aus der Not geborene digitale Form der Konferenz hat das ein Stück weit einfacher gemacht. So gab es zum Beispiel eine rege Beteiligung im Chat in Form von Austausch von Informationen und Hinweisen zu den in den Vorträgen behandelten Themen.

 

Wie lauten die Ergebnisse der Konferenz?

Für mich stechen zwei Aspekte besonders heraus: Zum einen wurde während der Tagung deutlich, dass nach wie vor nur wenige fotographische Quellen der Deportationen bekannt sind und die Idee formuliert, in einem Projekt systematisch nach Fotos und Filme von Deportationen zu suchen. Das freut mich besonders, weil wir ursprünglich Fotos und Filme als Quellen einen viel prominenteren Stellenwert in der Tagung einräumen wollten, was im Rahmen des digitalen Formats allerdings schwierig war. Hier gibt es bereits einen ersten Austausch, wie solch ein Projekt aussehen könnte. Zum anderen wurde bei der Podiumsdiskussion zu Datenbanken eine wichtige Frage aufgeworfen: Wie kann uns die Vernetzung von Datenbanken und die Herstellung von Synergieeffekten gelingen? Wie stößt man Wege an, dass zum Beispiel alle Daten zu einem Transport oder zu einem Tag digital zusammengeführt und gegebenenfalls visualisiert werden können? Die Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion haben verabredet, hierüber im Austausch zu bleiben und weiter gemeinsam in eine solche Richtung zu denken.

 

Welche weiteren Denkanstöße hat die Konferenz hervorgebracht?

Die Potentiale von mikrohistorischen Untersuchungen für umfassendere Fragestellungen wurden offenkundig. Ich denke dabei an lokale Forschungen etwa zu „Judenhäusern“, zu einzelnen Transporten aber auch zu Untersuchungen zu den Ghettos, die u.a. Zielorte von Transporten waren. Solche mikrohistorischen Untersuchungen können dazu beitragen, ein genaueres Bild von der Organisation der Deportationen und den Beteiligten zu bekommen, regionale Spezifika herauszuarbeiten und zueinander in Beziehung zu setzen. Die Möglichkeiten, die dabei auch kleinere Archive und bislang im Kontext von Deportationen weitgehend unbeachtete Bestände bieten können, sind immens. Die Arolsen Archives unterstützen in diesem Zusammenhang übrigens auch Mikroarchive, einschlägige Bestände zu digitalisieren und sie damit für die Forschung einfacher zugänglich zu machen. Trotz der vielen vielversprechenden Forschungsprojekte, die während der Tagung vorgestellt wurden, wurden auch immer wieder die bestehenden Desiderate deutlich. Insbesondere die Geschichte der Deportation der Sinti und Roma ist nach wie noch zu wenig erforscht und auch in der Öffentlichkeit kaum präsent.

 

Welche Bedeutung hat Deiner Meinung nach diese Forschung für die Gesellschaft insgesamt?

Ich denke, dass die Vermittlung von Forschungsergebnissen über die Fachdebatte hinaus an die Öffentlichkeit essentiell ist für eine demokratische Erinnerungskultur. Ich meine damit das Wissen über den Ablauf der Deportationen und die Beteiligung von so vielen unterschiedlichen Institutionen daran sowie über den Massenmord an den Deportierten und über die Verdrängung dieser Geschichte nach 1945. Dieses Wissen ist nicht nur ein Fachwissen; es geht alle an – nicht zuletzt auch deswegen, weil Antisemitismus und Antiziganismus nach wie vor existieren. Es gibt nach wie vor Ausgrenzung, Diskriminierung und Zuschreibungen bis hin zu körperlichen Übergriffen. Zu einer Vermittlung kann übrigens auch die Bereitstellung von historischen Dokumenten in Datenbanken und ihre Kontextualisierung beitragen und, mit einem forschungsbezogenen Ansatz, die Arbeit damit in der historischen Bildung. Die Verbindung des Online-Archivs der Arolsen Archives mit methodisch-didaktischen Lerneinheiten bildet zum Beispiel im Moment ein Fokus unserer eigenen Arbeit im Bereich der historischen Bildung.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch und die Einblicke, Akim.

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