#everynamecounts: Finden wir neue Hinweise auf Überlebende der Cap Arcona?

Die Cap Arcona zu Friedenszeiten. Foto: Carl Müller & Sohn, Hamburg-Altona / Stadtarchiv Neustadt

Es ist eine der größten Schiffskatastrophen der Welt: Der Untergang der Cap Arcona und der Thielbek in der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945. Die Alliierten hatten die Schiffe irrtümlich bombardiert. An Bord sind KZ-Häftlinge wie Dariusz Wiaderek oder Maurice Herment. Der eine gerade einmal 21, der andere 48 Jahre alt. Während sich Dariusz ans Ufer retten kann, kommt Maurice in den Fluten um. Wer war noch an Bord? Woher stammten die Menschen? Auf diese Fragen suchen wir gemeinsam mit dem Stadtarchiv Neustadt in Holstein Antworten in einer besonderen Kartei. Sie enthält 19.200 Karten und stammt aus einem Nachkriegslager. Dieses bot auch Überlebenden der Katastrophe Unterkunft. Wer waren sie? Mit einer neuen #everynamecounts-Aktion rufen wir jetzt Freiwillige zum Mitmachen bei der Digitalisierung der Karteikarten auf.

Es ist Ende April 1945. Die letzten Tage des 2. Weltkriegs. Die SS trieb die Überlebenden aus verschiedenen Konzentrationslagern in Todesmärschen nach Holstein – eines der letzten Rückzugsgebiete des Deutschen Reichs. Unter ihnen ist Maurice Herment. Der französische Eisenbahner und Widerstandkämpfer war 1944 als politischer Gefangenen aus dem nordfranzösischen Tergnier in das KZ Neuengamme verschleppt worden. Jetzt hofft er mit 7.000 anderen Menschen zusammengepfercht auf mehreren Schiffen vor der Küste Neustadts auf die Befreiung durch die Alliierten.

 

Alles, was der Familie von Maurice Herment bleibt: eine Brieftasche mit Fotos und Dokumenten, über Jahrzehnte verwahrt in unseren Archiven. Die Nazis hatten ihm alle persönlichen Gegenstände bei seiner Verhaftung 1944 abgenommen. Mit unserer ersten #StolenMemory-Ausstellung 2018 in Paris hatten wir nach seinen  Angehörigen gesucht. Kürzlich ist es uns gelungen, die Erinnerungstücke zurückzugeben. (Foto: Arolsen Archives)

 

Irrtümliche Bombardierung am Kriegsende

Am 3. Mai befindet sich Maurice vermutlich auf dem Passagierschiff Cap Arcona, als britische Flieger die Bucht irrtümlich bombardieren. Sie halten die vorgelagerten KZ-Schiffe für Kriegsmarine. Die Cap Arcona und der Frachter Thielbek fangen Feuer und kentern. Maurice hat keine Chance, er geht mit der Cap Arcona in den Fluten unter. Über 6.500 Menschen sterben.

 

Liste der identifizierten, geborgenen Leichen des Schiffsunglücks Quelle: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/3413431

Liste der identifizierten, geborgenen Leichen des Schiffsunglücks, Scan verwahrt in den Arolsen Archives (Foto: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/3413431)

 

 

Die meisten sind wie Maurice KZ-Häftlinge aus Neuengamme, einige hundert aus Auschwitz-Fürstengrube. Nur wenige schaffen es ans Ufer. Viele von ihnen werden von der SS abgefangen und erschossen. Dariusz Wiaderek hat Glück. Der 21-Jährige rettet sich vom Frachter Thielbek und entkommt den NS-Schergen.

Lager als vorübergehende Unterkunft für Überlebende

Nach der Befreiung bleibt Dariusz zusammen mit den Überlebenden der Schiffskatastrophe und der Todesmärsche in Neustadt. Er kommt zunächst in ein von den Alliierten eingerichtetes Lager. Dort warten auch andere sogenannte Displaced Persons (DP) – ehemalige KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter*innen und Jüdinnen und Juden – auf die Rückkehr in ihre Heimat oder auf eine Möglichkeit auszuwandern. Dariusz emigriert nach Schweden, kehrt später aber nach Warschau zurück.

 

Auszug aus der Liste der jüdischen Bewohner*innen des DP-Camp Neustadt in Holstein vom 15.05.1947 Quelle: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/82019536

Auszug aus der Liste der jüdischen Bewohner*innen des DP-Lager Neustadt in Holstein vom 15.05.1947. (Foto: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/82019536)

 

Kartei aus Nachkriegslager gibt Hinweise auf Überlebende

Der Hauptteil des Lagers befand sich in den Kasernengebäuden der ehemaligen deutschen U-Boot-Schule auf dem Wieksberg. Einige kamen auch in Privatwohnungen in den benachbarten Ostseegemeinden Scharbeutz, Sierksdorf und Timmendorfer Strand unter. In der Zeit waren zudem ein Lazarett, ein Kinderheim und mehrere Schulen für die Überlebenden von NS-Verfolgung vor Ort eingerichtet worden.

 

Zwei junge Griechen vor den ehem. Marinekasernen auf dem Wieksberg in Neustadt in Holstein, die in der Nachkriegszeit als DP-Lager genutzt wurden. Die beiden Männer tragen Häftlingskleidung des KZ Neuengamme. Sie waren kurz zuvor aus dem Hamburger Konzentrationslager in die Lübecker Bucht auf die Cap Arcona verschleppt worden und überlebten die Schiffskatastrophe. Foto vermutlich von Mai 1945. Bildquelle: Kostas Chalemos, Griechenland.

Zwei junge Griechen vor den ehemaligen Marinekasernen auf dem Wieksberg in Neustadt in Holstein. Die beiden Männer tragen Häftlingskleidung des KZ Neuengamme. Sie waren kurz zuvor aus dem Hamburger Konzentrationslager in die Lübecker Bucht auf die Cap Arcona verschleppt worden und überlebten die Schiffskatastrophe. Foto vermutlich von Mai 1945. (Foto: Kostas Chalemos, Griechenland.)

Das DP-Lager bestand bis 1950. Zeitweise lebten dort bis zu 4.000 Menschen. Ihre Personalien sind in einer Kartei mit 19.200 Karten, die das Stadtarchiv Neustadt in Holstein verwahrt, vermerkt. Wer davon war Überlebender der Schiffskatastrophe? Woher stammten die anderen Menschen? In welchem KZ waren sie interniert, wo und für wen mussten sie Zwangsarbeit leisten? Mit der Kampagne #everynamecounts wollen wir jetzt der Forschung helfen, Fragen wie diese zu klären.

 

Karte aus der Bewohnerkartei des DP-Lagers Neustadt in Holstein. Szymon Harendorf aus Polen, geb. 1916, überlebte die Haft im Konzentrationslager und gelangte am 26. Juli 1945 nach Neustadt in Holstein, verstarb allerdings 1947 im Alter von 31 Jahren in einem Lagerhospital in Kiel. Foto: Arolsen Archives / Stadtarchiv Neustadt in Holstein

Jetzt bei der Digitalisierung der Kartei mitmachen!

Freiwillige können die Personalien auf den eingescannten Karteikarten über eine Online-Plattform digitalisieren. Dazu braucht es kein Vorwissen oder besondere Kenntnisse – wer dabei helfen möchte, die Regionalgeschichte aufzuarbeiten und an die Überlebenden zu erinnern, kann einfach mitmachen.

Hier geht es zum Mitmachen

 

Neues Dokumentationszentrum in Neustadt in Holstein

Die Ergebnisse werden auch in die Arbeit eines neuen Dokumentationszentrums zur Cap-Arcona-Katastrophe einfließen. Dies wird derzeit von der Stadt Neustadt in Holstein mit Unterstützung des Bundes und des Landes Schleswig-Holstein errichtet. Die etwa 300 Quadratmeter umfassende Dauerausstellung wird zukünftig über das Schicksal tausender KZ-Häftlinge aus vielen Ländern Europas in der Lübecker Bucht und in Neustadt am 3. Mai 1945 informieren. Hauptzielgruppen sind Jugendliche und junge Erwachsene, die überwiegend als Schulklassen und Gruppen der historisch-politischen Bildungsarbeit ins Dokumentationszentrum kommen.

 

Suche nach Angehörigen von Opfern der Schiffskatastrophe

Von einigen Dutzend Opfern des Schiffsunglücks verwahren wir, wie von Maurice und Dariusz, noch persönliche Gegenstände. Insgesamt sind es über 2.000 Umschläge mit persönlichem Besitz von ehemaligen KZ-Häftlingen. Sie gehören nicht uns, sondern den Familien der Opfer. Darauf machen wir mit unserer Wanderausstellung #StolenMemory aufmerksam. Die Ausstellung in einem Überseecontainer kann vom 26. April bis zum 14. Mai auf dem Marktplatz in Neustadt in Holstein besucht werden. Sie ist eingebettet in Veranstaltungen zum Jahrestag des Untergangs der Schiffe.

 

Auch Theophilos Simonides war an Bord der Cap Arcona. Seine Geschichte erzählen wir in der Wanderausstellung #StolenMemory. Er starb schon vor der Bombardierung, nach nur drei Tagen an Bord, aufgrund katastrophaler hygienischer Verhältnisse. (Foto: Arolsen Archives)

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