Am 15. Oktober 1944 wurde Ellis de Vries im Ghetto Theresienstadt geboren. Dass Mutter und Tochter überlebten, ist ein Wunder. Die allermeisten Mitglieder der jüdischen Familie de Vries wurden über das Durchgangslager Westerbork direkt nach Auschwitz oder Sobibor deportiert und ermordet. Die schwangere Helena de Vries kam auf eine andere Liste.

„Ich möchte meinen Kindern gerne die Geschichte ihrer Familie erzählen können.“ Die Australierin Lucy Stoxen ist die Tochter von Ellis de Vries. Sie reiste im Juli 2018 nach Polen und Deutschland, um mehr über das Schicksal ihrer Familie zu erfahren. Eine Station auf der Reise mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern war der International Tracing Service (ITS). Von einem Mitglied der jüdischen Gemeinde hatte sie den Tipp bekommen, das Archiv in Bad Arolsen zu besuchen.

Aus dem engeren Kreis ihrer Familie überlebten nur vier Verwandte den Holocaust: Neben Mutter und Großmutter waren es eine Großtante und der Großcousin Alexander, die beide in Amsterdam untergetaucht waren. Er händigte ihr nach dem Tod ihrer Oma eine Liste mit mehr als 50 Namen von Familienmitgliedern aus – alle ermordet von den Nationalsozialisten. So wurde Lucy Stoxen im Alter von 16 Jahren erstmals mit der Familiengeschichte konfrontiert.

Ihre Großmutter war mit ihrem neuen Mann und Tochter Ellis nach Australien in eine Kleinstadt in der Nähe von Perth emigriert. Sie zog einen konsequenten Schlussstrich unter die Vergangenheit: Nie redete sie über Verfolgung und Mord, ihr eigenes Schicksal oder die glücklichen Zeiten, als ihre Familie durch den Textilhandel ein privilegiertes Leben führte. Es gab in Australien keine Kontakte zu anderen Überlebenden. Die Kinder lernten nur die englische Sprache. Den beiden Verwandten in Amsterdam verbot sie, über die Zeit vor 1945 zu sprechen. So erfuhr ihre Tochter Ellis erst spät, dass sie nicht in Amsterdam, sondern in Theresienstadt zur Welt gekommen ist. Bis heute weiß sie nicht, wer ihr leiblicher Vater ist.

„Ich bin die Richtige, die nun endlich alles über die Familie zusammentragen kann“, sagt Lucy Stoxen über die Aufgabe, die sich gestellt hat. „Meine Großmutter und meine Mutter wollten es nicht.“ Sie erzählt, dass sie mit ihrer Mutter vor einigen Jahren eine Gedenkveranstaltung der jüdischen Gemeinde besucht hat, bei der in einem Büchlein, die Namen der Holocaust-Überlebenden notiert waren. „Ich habe ihr zugeflüstert, dass ihr Name fehle. Sie hat abgewunken, weil sie sich selbst so nicht sieht.“

Da sie kurzfristig den ITS angesprochen hatte und nach Arolsen gekommen war, konnte ITS-Mitarbeiterin Kerstin Hofmann längst nicht zu allen Angehörigen Informationen suchen. In vielen Fällen sind es immer genau drei Dokumententypen: die Registrierungskarte der Juden in Holland, eine Transportliste aus Westerbork und dann die lange Liste der ermordeten niederländischen Juden. Lucy Stoxen hat oft Tränen in den Augen. Für sie ist es ein kleiner Trost, wenn sie sieht, dass ihre Vorfahren vor der Ermordung nur wenige Tage in den Vernichtungslagern waren und somit nicht allzu lange leiden mussten.

Der Besuch war ein erster Schritt, nach und nach werden nun beim ITS alle Namen geprüft und alle verfügbaren Dokumente als Kopien nach Australien gemailt. Lucy Stoxen wird dem ITS auch noch Informationen zu einer ganz entfernten Verwandten schicken, von der sie vermutet, dass sie überlebt haben könnte. Der Suchdienst des ITS wird sich bemühen, Spuren zu finden.

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