Zwei Geschichtslehrer*innen der Bertolt-Brecht-Schule in Darmstadt bringen ihren Schüler*innen die Verbrechen der Nationalsozialisten auf neue Weise nahe. Statt klassischem Frontalunterricht bieten sie Projektarbeit an, die forschend, dialogisch und kollegial ausgerichtet ist. Im Mittelpunkt stehen dabei Originaldokumente, unter anderem aus den Beständen der Arolsen Archives.

Unterricht bestehe häufig nur aus einer „Präsentation des Lehrers“, kritisiert die Schülerin Hannah Glaser. Das mache kaum Spaß und „ist eigentlich eine traurige Situation“, sagt die 18-jährige Gymnasiastin. Sie wünscht sich mehr Dialog und die Möglichkeit, eigene Impulse und Gefühle einzubringen. Ihre Reflexion der Lernsituation ist Teil der im Internet veröffentlichten Abschlusspräsentation des Projekts „Prozesse der Entrechtung und Verfolgung“, das die Deportationen jüdischer Zwangsarbeiter im Jahr 1941 in Darmstadt behandelt. Die Projektarbeit kam gut bei Hannah an: „Was wir machten ging über das hinaus, was sonst im System Schule stattfindet.“

 

Schüler*innen forschen selbst

Fast ein Jahr lang beschäftigte sich das Projektteam an der Bertolt-Brecht-Schule in Darmstadt mit den Biografien von Tätern und Verfolgten aus der hessischen Großstadt. „Unser Ansatz ist das forschende Lernen“, sagt Geschichtslehrerin Kirsti Ohr, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Bernhard Schütz für das Schulprojekt verantwortlich ist. „Wir möchten, dass die Schülerinnen und Schüler sich selbst als Forschende wahrnehmen und ihre eigenen Suchbewegungen machen“, erklärt Ohr.

Hannah Glaser hält ein Dokument über Rudolf Adler hoch, das sie bei #everynamecounts indiziert hat. 

 

Originaldokumente im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt stehen dabei Originaldokumente, etwa von den Arolsen Archives oder aus den hessischen Staatsarchiven. Die Lehrer*innen recherchieren vorab Schicksale und Dokumente, halten Rücksprache mit den Archiven und stellen eine Auswahl für die Projektarbeit zusammen. Vor Beginn der Eigenarbeit der Schüler*innen gibt es zudem eine historische Einführung. „Wir sind natürlich in der Pflicht, für den Kontext zu sorgen“, erklärt Bernhard Schütz. Danach aber steht es den Schüler*innen zunächst frei, wie sie sich den Biografien von Tätern und Verfolgten nähern.

„Sie achten dabei oft auf überraschende Details und finden ihre eigenen Zugänge“, berichtet Kirsti Ohr. Die Pädagog*innen begleiten die Rechercheprozesse eng und sind manchmal erstaunt über den Fokus der jungen Leute. „Wir müssen dann bei bestimmten Fragen, die auftauchen, immer mal wieder selbst neu recherchieren“, berichtet Bernhard Schütz. „Die Schüler bemerken dann, dass wir auch nicht alles wissen“, sagt er. „Das ist aber ein gewollter Effekt, wir forschen tatsächlich gemeinsam, das hat etwas Kollegiales.“

 

„Analytische Empathie“ wird gefördert

Im Mittelpunkt der nun abgeschlossenen Projektarbeit standen die Biografien von Opfern und Verfolgten aus Darmstadt. Das Projektteam sichtete Täterdokumente aus den Konzentrationslagern und konnte die Deportationswege und Ermordung von zur Zwangsarbeit verpflichteten Darmstädter Bürger*innen nachzeichnen. Die Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht ist dabei für die jungen Leute durchaus fordernd, sagt Kirsti Ohr. „Manchmal fehlen Informationen in den Dokumenten und es bleiben Unklarheiten, manchmal treffen die Jugendlichen auf Urteile aus späteren Wiedergutmachungsverfahren, die sie ungerecht finden“, erzählt sie. Das erfordert und fördert dann „analytische Empathie“, sagt die Pädagogin.

 

Die Ergebnisse der Recherche fließen seit 2017 in eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus ein, zu der die Stadt Darmstadt jährlich am 27. Januar einlädt. Weil diese Anfang des Jahres angesichts der Corona-Pandemie nicht wie üblich stattfinden konnte, erstellte die etwa 20-köpfige Projektgruppe erstmals eine Internetpräsenz und einen Begleitfilm. „Das passt zu unserem Ziel, mit dem Projekt auch in die Gesellschaft hineinzuwirken“, sagt Bernhard Schütz. Kritisch war indes der pandemiebedingte Wegfall der Projektworkshops im Max Mannheimer Studienzentrum in Dachau. „Viele Verfolgte aus Darmstadt waren im Konzentrationslager Dachau inhaftiert, deshalb ist uns die Zusammenarbeit mit dem Studienzentrum sehr wichtig“, sagt Kirsti Ohr.

Auch die Schülerin Emma Krämer hat an dem Projekt teilgenommen. 

 

Nachfolgeprojekt bereits gestartet

Dass der direkte Austausch zwischen den Projektteilnehmer*innen durch die Pandemie deutlich seltener wurde, fiel zwar auf, sorgte aber nicht für nachhaltigen Frust. Kirsti Ohr und Bernhard Schütz starten bereits das nächste Projekt. Ab sofort geht es an der Bertolt-Brecht-Schule um die Verfolgung hessischer Sinti und Roma. Erstmals gibt es dafür auch eine Zusammenarbeit mit dem Verband der Sinti und Roma in Hessen.

 

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