Der NSDAP-Politiker Julius Streicher verdiente einst ein Vermögen als Herausgeber des antisemitischen Hetzblatts „Der Stürmer“. Nach Kriegsende wurde in der Redaktionsbibliothek der Wochenzeitung eine große Sammlung von Büchern gefunden, die zuvor Opfern des nationalsozialistischen Regimes geraubt worden waren. Im Auftrag der Stadt Nürnberg arbeitet der Publizist und NS-Raubgut-Forscher Leibl Rosenberg seit über 20 Jahren daran, sie an ihre rechtmäßigen Besitzer oder ihre Nachfahren zurückzugeben. 

Im Interview spricht der 72-Jährige über seine Arbeit und erklärt, warum er dabei auch das Online-Archiv der Arolsen Archives nutzt.

 

Rund 9.000 Bücher wurden in den Bibliotheken des Nazis Julius Streicher gefunden. Wie konnten Sie klären, wem sie ursprünglich gehörten?

Es gibt in rund 3.700 Fällen Vermerke oder Schriftstücke in den Büchern. Ich konnte sie etwa 2.200 Menschen oder Institutionen zuordnen. Diese Provenienzeinträge gewähren immer wieder aufschlussreiche und bewegende Einblicke in Lebensumstände und Schicksale von Menschen und Institutionen, die in der Zeit der Verfolgung beraubt, vertrieben oder vernichtet wurden.

 

Wie finden Sie die rechtmäßigen Besitzer?

Zum einen veröffentlichen wir im Internet in regelmäßigen Abständen Suchlisten mit detaillierten Informationen über die Vorbesitzer. Andererseits kontaktieren wir direkt potentielle Partner, von denen wir uns Informationen und Hinweise auf die Gesuchten erhoffen. Auf diese Weise kommen wir in Kontakt mit Menschen, deren Familien und Rechtsnachfolger durch die NS-Verfolgung in die ganze Welt zerstreut wurden. Gleichzeitig wenden sich Angehörige oder Hinweisgeber auch oft von sich aus an uns. Wir könnten so bisher etwa 800 Schriften zurückgeben.

 

Wem gehörten die Schriften ursprünglich?

Das ist ganz unterschiedlich. Juden, Freimaurern, Mitgliedern und Funktionären der Arbeiterbewegung und Vertretern christlichen Glaubensrichtungen, aber auch Geistlichen und Gelehrten, Großkaufleuten und Schulkindern, Akademien und Arbeitersportverbänden, Bibliotheken und Buchhandlungen, Handwerkern und Philosophen. Sie wurden alle in der Zeit von 1933 bis 1945 zu Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung. Sie wurden ausgeraubt und um ihre Erinnerungen, ihre Gefühle und ihre Lebenswelten gebracht.

 

Der Raub sollte die Menschen also treffen?

Ja, eindeutig. Es ging auch nicht unbedingt um den Wert der gestohlenen Werke. Es sind keine Autoren- oder Bibliotheksexemplare, sie stehen eher für eine Normalität und Alltäglichkeit. Es wurden keineswegs nur Wissenschaftler, Rabbiner, Pfarrer, Bibliophile, Sammler und Händler ausgeraubt, sondern ganz normale Bürger, Nachbarn, Freunde und Verwandte – Menschen, die man kannte, mit denen man zu tun hatte, mit und neben denen man lebte und deren Namen heute vergessen sind.

 

Sie nutzen für Ihre Suche auch das öffentlich zugängliche Online-Archiv der Arolsen Archives. Wie hilft Ihnen das weiter?

Ich finde weitere Anhaltspunkte zu Namen oder Anschriften, die in den geraubten Schriften gefunden wurden. Damit wird unsere Suchliste aussagekräftiger. Wir steigern die Chance, dass es Nachfahren gibt, die ein Buch tatsächlich ihren Vorfahren zuordnen können. Die Informationen, die wir in den Schriften selbst finden, sind ja oft nur sehr bruchstückhaft. Ich halte die Angebote der Arolsen Archives aber abgesehen davon auch für einen sehr wertvollen Beitrag zur Erinnerungsarbeit.

 

Sie haben durch Ihre Arbeit selbst ein kleines Archiv geschaffen, das öffentlich einsehbar ist.

Richtig. Sämtliche Eintragungen und Provenienzhinweise in den Schriften der Sammlung sind detailgetreu aufgenommen und können über den elektronischen Katalog der Stadtbibliothek Nürnberg weltweit recherchiert werden. Ein weiterer Schritt bei der Veröffentlichung der dokumentierten Provenienzeinträge ist die bildliche Erfassung dieser Einträge durch Scans und deren Anbindung an die jeweiligen Katalogisate im Online-Katalog der Stadtbibliothek Nürnberg. Diese Maßnahme schafft die Möglichkeit, die Besitzvermerke in Augenschein zu nehmen und sie mit eigenen Unterlagen zu vergleichen. Das kann der Beginn einer möglichen Restitution sein.

 

Die Zahl der Überlebenden der Shoah sinkt Jahr für Jahr. Wird Ihre Arbeit für die Restitution von Schriften dadurch noch wichtiger?

Ja, ich bin sicher, das Interesse der Nachkommen erster, zweiter und dritter Generationen an den Lebensspuren ihrer Familien wird weiter steigen. Ich vermute, die Arolsen Archives machen bei der Rückgabe von Effekten ganz ähnliche Erfahrungen. Gerade dann, wenn niemand mehr lebt, der selbst berichten kann, bekommen Bücher aus dem Besitz der Ermordeten oder Verstorbenen eine  große Bedeutung. Es kommt dann manchmal zu sehr emotionalen Szenen, die mich auch persönlich sehr berühren.

Leibl Rosenberg wurde als Kind polnischer Juden im DP-Lager Lagerlechfeld bei Landsberg geboren. Der Publizist widmet sich seit 1997 der Erforschung, Katalogisierung und Rückgabe der nach Kriegsende im Besitz des Gauleiters Julius Streicher gefundenen geraubten Schriften. Der Bestand wurde nach dem Kriegsende der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg übergeben. Er befindet sich als Dauerleihgabe in den Magazinen der Stadtbibliothek Nürnberg.

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