„Ich versuche, die Botschaft weiterzutragen“ - Interview mit Gaëlle Nohant

Der neue Roman der französischen Autorin Gaëlle Nohant, „Le bureau d’éclaircissement des destins“, ist von der Arbeit der Arolsen Archives inspiriert, insbesondere von der Kampagne #StolenMemory. Der Roman wurde in Frankreich gefeiert und mit dem „Grand Prix RTL-Lire“ für Literatur ausgezeichnet. Im Herbst 2024 wird er unter dem Titel „All die gestohlenen Erinnerungen“ in deutscher Sprache erscheinen.

Frau Nohant, worum geht es in Ihrem neuen Roman?

Mein Roman erzählt von den Nachforschungen der französischen Archivarin Irène, die beim International Tracing Service arbeitet. Ende 2016 übernimmt die Protagonistin die Aufgabe, drei Gegenstände, die einmal Deportierten gehört haben, an die Nachkommen ihrer Besitzer zurückgeben. Mit ihren Recherchen bringt Irène Licht ins Dunkel vieler Schicksale, nicht zuletzt in ihr eigenes. Gleichzeitig gibt der Roman den Leser*innen einen Einblick in die Geschichte des International Tracing Service – von seiner Gründung bis zur Öffnung der Archive für die Öffentlichkeit und für Forscher.

 

Wie sind Sie auf die Arolsen Archives und die Kampagne #StolenMemory aufmerksam geworden?

Eine Freundin, die von den Arolsen Archives Auskunft über das Schicksal ihrer Verwandten erhalten hatte, machte mich auf Dokumente von Robert Desnos im Online-Archive der Arolsen Archives aufmerksam. Ich hatte einen biografischen Roman über Desnos geschrieben und jahrelang zu ihm recherchiert, kannte jedoch weder diese Dokumente noch das Archiv. Aus Neugier recherchierte ich alles, was ich über die Arolsen Archives finden konnte. Dabei stieß ich auf mehrere Artikel über die Kampagne zur Rückgabe von persönlichen Gegenständen, sogenannte Effekten, die in einigen Konzentrationslagern gefunden wurden – #StolenMemory. Ich wusste sofort, dass ich einen Roman darüber schreiben wollte.

 

Was hat Sie an der Rückgabe persönlicher Gegenstände von ermordeten Personen an ihre Familien fasziniert?

Zunächst einmal war ich von der symbolischen Bedeutung dieser Gegenstände beeindruckt. Sie sind zwar mit einer schmerzhaften Geschichte verbunden, erinnern aber vor allem an das Leben der deportierten Person, auch jenseits ihres Leidensweges. Diese Person nimmt plötzlich wieder ihren Platz in der Familie und im Leben ein. Außerdem finde ich es in der heutigen Zeit, in der oft alles auf einen Marktwert reduziert wird, bewundernswert und wichtig, dass so langwierige, schwierige und sorgfältige Nachforschungen angestellt werden, um einen in materieller Hinsicht wertlosen Gegenstand zurückzugeben.

 

Warum denken Sie, ist es wichtig, dass Familien diese Gegenstände zurückerhalten?

Ich denke, es ist wichtig, die Verbindung zu den Verstorbenen wiederherzustellen, oder zu denen, die aus den Konzentrationslagern zurückgekehrt sind und oft kaum etwas über diese schreckliche Zeit ihres Lebens erzählt haben. Im Laufe der Generationen und je weiter man sich von diesem schwarzen Loch der Deportation entfernt, fällt es Menschen vielleicht leichter, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Die Rückgabe repariert etwas von einer zerstörten Geschichte.

Außerdem ist es eine Möglichkeit, Menschen zu ehren, die nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sind, die nicht beerdigt werden konnten. Der Gegenstand symbolisiert den fehlenden Körper und ermöglicht es, dem Verschwundenen wieder einen Platz unter den Lebenden zu geben. Ich erinnere mich an einen Mann, der dank der Rückgabe entdeckte, dass er seinem Großonkel sehr ähnlich sah. Auch das ist eine Möglichkeit, eine Verbindung zu seiner Familiengeschichte herzustellen.

 

Haben Sie selbst schon an einer Rückgabe von Effekten teilgenommen? Wie haben Sie diesen Moment erlebt?

Ich war bei mehreren Rückgaben von Effekten dabei und fand sie sehr bewegend. Was mich besonders beeindruckt hat, war, dass diese Zeremonien zwar emotional, aber nicht traurig waren. Sie hatten sogar etwas Friedliches an sich durch das Zusammenkommen mehrerer Generationen, der Familien mit ihren Kindern. Ich denke, dass die Rückgabe ihnen vielleicht hilft, ihre oft schmerzhafte Geschichte, die von unbeantworteten Fragen und Schweigen belastet ist, ein wenig aufzuarbeiten.

 

Die Nationalsozialisten nahmen Hélene Swaczyk bei ihrer Einlieferung in das KZ diesen Schmuck ab. Jetzt sind die Erinnerungsstücke wieder im Besitz der Familie. (Foto: Arolsen Archives)
Familie Swaczyk mit Tochter Irene bei der feierlichen Effektenübergabe im französischen Außenministerium am 23. Januar 2023, an der auch Gaëlle Nohant teilgenommen hat. (Foto: Arolsen Archives)

Rückgabe von Effekten in Frankreich

Hélene Swaczyk wurde von den deutschen Besatzern ins Konzentrationslager verschleppt und musste dort Zwangsarbeit leisten. Sie überlebte und kehrten nach der Befreiung nach Frankreich zurück. Mit Unterstützung von Freiwilligen kamen nun auch ihre persönlichen Gegenstände nach Hause zurück.

 

 

Deshalb finde ich es auch wichtig, dass die Wanderausstellung #Stolen Memory noch bis Ende 2024 durch Frankreich touren wird und hoffe, dass dadurch noch mehr Menschen von dem Projekt erfahren.

 

Gibt es in Ihrer eigenen Familie Personen, die vom Holocaust betroffen waren? Hat Ihr Buch autobiografische Bezüge?

In meiner Familie wurde niemand deportiert. Dennoch haben die Deportation und der Holocaust meine Großmutter ein Leben lang geprägt. Sie war zu Kriegszeiten ein Teenager. Dieses Trauma hat sie an ihre Töchter und Enkel weitergegeben. Schon früh in meiner Kindheit hat sie mir von Krieg und der Ausgrenzung erzählt, die den Deportationen und dem Tod in den Lagern vorausgingen.

Die Geschichte hat sie zu einer starken und solidarischen Person gemacht. Ich habe sie immer gegen alle Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen kämpfen sehen. Beim Schreiben habe ich die ganze Zeit an sie gedacht. In gewisser Weise ist der Roman eine Form, ihr zu sagen: „Ich habe die Botschaft verstanden. Jetzt versuche ich sie weiterzutragen“. Die französische Widerstandskämpferin Lucie Aubrac, die ich sehr mochte, hat einmal gesagt, dass das Verb „widerstehen“ immer im Präsens konjugiert wird.

 

Haben Sie selbst in den Arolsen Archives recherchiert?

Ich habe im Corona-Winter 2020 mit der Arbeit an meinem Roman begonnen. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch die Ausgangssperre, das Archiv war also geschlossen. Glücklicherweise konnte ich aber dank der Digitalisierung von zu Hause aus auf den Großteil des Archivs zugreifen und verbrachte viel Zeit damit, darin zu stöbern, Archivmaterial aus dem Deutschen oder Englischen zu übersetzen, Dokumente zu vergrößern, um Details, Abkürzungen und Stempel zu studieren. Ich las auch interne Dokumente des ITS, den Schriftverkehr von Archivar*innen mit Antragstellenden oder anderen Archiven. Dieses Eintauchen in die Geschichte war sehr intensiv.

 

Welche Eindrücke haben Sie dabei gesammelt?

Ich erinnere mich zum Beispiel an den Bericht eines SS-Kommandanten, der seinen Vorgesetzten mitteilte, dass ein bestimmtes russisches Dorf „judenrein“ sei, dass also die gesamte jüdische Bevölkerung ermordet oder deportiert worden war. Die Kälte dieses Berichts hat mich erschüttert. Auch wenn man viele Berichte von Betroffenen und Bücher von Historikern zu diesem Thema gelesen hat, ist das Archiv atemberaubend. Es ist ein Stück Realität, das einen mitten ins Herz trifft.

Ein anderes Beispiel ist der Brief von Hugh Elbot, dem ehemaligen Interimsdirektor des ITS, der 1952 seine amerikanischen Vorgesetzten davor warnte, das Archiv den Deutschen anzuvertrauen. In dem Brief erklärt er, dass er 45 Führer der SS und der Gestapo unter dem Archivpersonal ausgemacht hat. Einer von ihnen habe sogar versucht, das Archiv in Brand zu setzen. Ich fand diese Episode so interessant, dass ich sie in meinen Roman eingebaut habe.

 

Basieren die Protagonistin Irène oder andere Figuren in Ihrem Roman auf realen Personen? Inwieweit ist der Roman fiktiv?

Ich wollte einen Roman schreiben, um alle Darstellungsmöglichkeiten des Fiktiven zu nutzen, aber gleichzeitig sicherstellen, dass die historischen Fakten stimmen. Daher habe ich meine fiktiven Handlungen und Figuren immer an die historische Realität angelehnt. Ich habe zweihundert Bücher und Zeugenberichte gelesen, Dutzende von Dokumentationen gesehen und zahlreiche Artikel und Archive durchsucht, um die Figuren und Schicksale in diesem Buch zu entwickeln.

Manchmal habe ich den Namen, den ich einer fiktiven Figur gegeben hatte, bei der Archivsuche eingegeben und einen Namensvetter gefunden. Es gibt zum Beispiel einen Lazar Engelmann in den Archiven, der praktisch das gleiche Alter und die gleiche Verfolgungsgeschichte wie meine Figur hat. Auf seiner Häftlingspersonalkarte aus Buchenwald gab es sogar ein Foto, das zur Vorlage für meine Figur wurde.

Alle Figuren in meinem Roman sind zwar fiktiv, aber das, was sie im Roman erleben, ist zwangsläufig von realen Menschen während des Krieges erlebt worden, und ihre Gefühle und ihre Geschichte werden von denen der Zeitzeugen geprägt und inspiriert. Abgesehen von meinem Wunsch nach historischer Genauigkeit, wollte ich alle diese Schicksale mit größtem Respekt und größter Sensibilität behandeln. Hinter jeder Figur stehen all die Menschen, die Ähnliches erlebt haben.

Auch die Hauptfigur Irène ist fiktiv, aber sie wurde durch meine Gespräche mit Nathalie Letierce-Liebig von den Arolsen Archives gespeist, durch ihr Engagement für die Opfer und ihre Nachkommen, ihre Sensibilität, ihre große Empathie und Zurückhaltung. Es steckt auch ein wenig von mir selbst in Irène, weil ich mit der Figur zusammen die Ermittlungen durchgeführt habe, während ich sie geschrieben habe. Und auch, weil für Irène – wie für Nathalie Letierce-Liebig und zweifellos für viele Menschen, die im Dienst der Opfer des Nationalsozialismus arbeiten – ihre Arbeit mehr als nur ein Job ist. Sie ist eine Lebensaufgabe, die mit dem Feierabend nicht endet.

 

Gaëlle Nohant, Nathalie Letierce-Liebig und George Sougné, ein Freiwilliger von #StolenMemory, zu Besuch bei den Arolsen Archives. (Foto: Arolsen Archives)

 

Was mich betrifft, so hat mich dieser Roman praktisch Tag und Nacht drei Jahre meines Lebens beschäftigt, und ich war mir bewusst, dass dies der Preis war, den ich zahlen musste, um diesem Thema gerecht zu werden. Meine Tochter war jedoch nicht immer derselben Ansicht!

 

Ihr Roman ist im Januar 2023 in Frankreich erschienen. Wie waren die Reaktionen?

Die Reaktionen auf das Buch waren großartig, besonders die von Leser*innen und Journalist*innen. Viele kannte die Arolsen Archives nicht. Am meisten berührt hat mich jedoch die Reaktion von Nathalie Letierce-Liebig, die sich in der Figur der Irène wiederfand und das Buch als Hommage an ihre Arbeit las.

Ich freue mich auch sehr über die Reaktionen der Nachkommen von Opfern, die mich in Buchhandlungen und auf Buchmessen treffen oder mir schreiben. Mein Anliegen war es, ihnen durch meinen Roman Respekt entgegenzubringen. Dass sie das tatsächlich so empfinden, erleichtert und beruhigt mich. Einige erzählen mir, dass sie nach der Lektüre des Romans die Arolsen Archives kontaktiert und teilweise Auskunft zu ihren Angehörigen erhalten haben.

Mich bewegen aber auch die Gespräche mit jungen Leser*innen. Besonders für sie habe ich den Roman geschrieben. Dass sie sich von dem Buch angesprochen fühlen, freut mich sehr und erfüllt mich mit Hoffnung.

Vielen Dank für dieses Interview!

 

Gaëlle Nohant wurde 1973 in Paris geboren und ist eine französische Autorin. Sie hat bereits vier Romane veröffentlicht. Im Sommer 2024 wird der Roman in England erscheinen, die deutsche Übersetzung des Romans erscheint unter den Titel „All die gestohlenen Erinnerungen“ im Herbst 2024 beim Piper-Verlag. (Foto: Arolsen Archives)

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