Krieg in der Ukraine: Alte und neue Traumata
Der Krieg in der Ukraine bedroht viele Menschen und kann Erinnerungen an frühere Gewalt- und Kriegserfahrungen wachrufen. Auch außerhalb des Kriegsgebietes haben Menschen nun mit aufbrechenden Traumata zu kämpfen. Die Sozialwissenschaftlerin und Biografieforscherin Iris Wachsmuth spricht im Interview darüber, wie sich Traumata zeigen können und wie man mit ihnen umgehen kann.
Welche Traumata kann der Krieg in der Ukraine bei den Menschen dort auslösen?
Die Menschen in der Ukraine werden jetzt durch stärkste Gewalteinwirkungen, Zerstörung, Verfolgung, Ermordung von Angehörigen, Verlust von Heimat und Kultur traumatisiert. Das kann sich beispielsweise in Angststörungen, Bluthochdruck, Schweißausbrüchen oder Depression zeigen, aber auch in Alpträumen. In der ganzen Ukraine leben immer noch viele Opfer der NS-Verfolgung. Dort sind im Zweiten Weltkrieg von deutschen Besatzern auch abertausende Menschen ermordet worden, weil sie Juden waren oder Roma. Die Traumatisierungen sind an ihre Nachfahren weiter tradiert worden. Es gab dort viele Massentötungen während NS-Zeit, die gerade erst aufgearbeitet wurden – und jetzt wieder ein Angriffskrieg. Das steht für offene Wunden.
Können Sie kurz erklären, was intergenerationale Traumata eigentlich sind?
Es gibt eine Gruppe von NS-Überlebenden, die viel von ihren Erfahrungen erzählt haben. Deren Kinder und Enkel sagen z.B., dass sie quasi selbst im KZ großgeworden sind. Und dann gibt es die, die eben gar nicht sprechen oder erst im hohen Alter dazu in der Lage sind. Sie werden erst dann durch irgendetwas getriggert und beginnen, zu weinen, zu erzählen.
Traumata können genetische Strukturen verändern
Es gibt unbewusste Gefühlserbschaften, die trotzdem präsent sind, auch wenn nie über das Erfahrene gesprochen wurde. Wir wissen auch, dass sich durch Traumata genetische Strukturen verändern können. Kinder und Enkel der Traumatisierten tragen Gefühle mit sich, die nicht nur von ihnen kommen können. Sie haben ihren Ursprung in der Familiengeschichte und wurden übernommen von den Eltern oder Großeltern.
»Es gibt unbewusste Gefühlserbschaften, die trotzdem präsent sind, auch wenn nie über das Erfahrene gesprochen wurde.«
Iris Wachsmuth, Sozialwissenschaftlerin und Biografieforscherin
Es gibt Berichte über Überlebende der NS-Verfolgung und ihre Angehörigen in der Ukraine, die jetzt wie gelähmt sind und den Krieg nicht wahrhaben wollen. Kann sich ein Trauma auch so zeigen?
Ja, Verdrängung ist ja erst einmal ein Überlebensmechanismus. Menschen können durch Verdrängung und Vergessen weiterleben, wenn ihnen sehr, sehr Schlimmes angetan wurde. Sie können diese Erfahrung also abspalten im positiven Sinn. Bei posttraumatischen Belastungsstörungen und akutem Stress durch Lebensgefahr, versuchen Menschen sich vor diesem aktuellen Angriffskrieg zu schützen, indem sie ihn derealisieren.
Was bedeuten die Kriegstraumata, die ukrainische Kinder jetzt erleiden, für ihr weiteres Leben? Wie können wir ihnen helfen?
Es ist kaum auszuhalten, dass jetzt so viele Menschen schon wieder neu traumatisiert sind, verletzt oder sogar getötet werden. Für traumatisierte Kinder, die jetzt von anderen Ländern aufgenommen werden, ist es wichtig, dass sie sich dort sicher fühlen können. Sie müssen wissen: Das ist ein sicherer Ort, hier ist mein Zimmer, hier kann ich sicher und beschützt schlafen – die Grundbedürfnisse müssen erfüllt sein. Die zügige Integration in KiTa und Schule und der Dialog mit Gleichaltrigen ist sehr wichtig für ein stabiles Selbst. Die Kinder brauchen Möglichkeiten, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Das geht zum Beispiel über das Malen oder Zeichnen, bestenfalls in einem geschützten Raum mit therapeutischer Hilfe.
Erzieher*innen und Lehrer*innen müssen in der Lage sein zu erkennen, ob ein Kind traumatisiert ist. Sie brauchen Methoden und Techniken, mit diesen Kindern zu arbeiten oder auch weitere professionelle Hilfe vorzuschlagen. Die Kinder müssen die Möglichkeit bekommen, ihre Erfahrungen und Gefühle verarbeiten zu können.
Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg werden getriggert
Was ist Ihre Beobachtung? Haben jetzt auch Menschen in Deutschland mit der Traumatisierung aus dem Zweiten Weltkrieg zu kämpfen?
Auf jeden Fall können Traumatisierungen durch die Bilder und durch die Realität dieses Angriffskriegs getriggert werden. Das betrifft erst einmal ganz viele Menschen, sowohl die Überlebenden der NS-Verfolgung und deren Nachfahren als auch die der Unterstützer*innen des NS-Systems. Allerdings gibt es auch einen deutschen Opferdiskurs, der gerne ausblendet, dass die Mehrheitsgesellschaft von Mitläufer*innen und Täter*innen den Nationalsozialismus und den Holocaust mit zu verantworten hatte.
In Deutschland gibt es die Gruppe der sogenannten Kriegskinder, die als Kleinkinder die Bombennächte miterlebt haben. Kommt dieses Trauma nun auch wieder hoch?
Diese Generation waren den Kriegshandlungen damals schutzlos ausgeliefert. Die Menschen kann man natürlich in keiner Weise schuldig sprechen. Sie sind auch in einer Zeit aufgewachsen, in der es keine Therapiemöglichkeit gab. Psychische Leiden waren etwas Anrüchiges und es gab keine Infrastruktur dafür. Wir sprechen hier von der sogenannten vaterlosen Gesellschaft. Falls die Väter aus dem Krieg zurückkamen, waren sie emotional oft nicht mehr präsent oder extrem brutal. Ebenso waren Mütter durch den Krieg, Flucht oder Massenvergewaltigungen oft nicht in der Lage auf die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen. Dadurch konnte eine sichere Bindung zum Kind zerstört werden. Nicht zu vergessen ist die NS-Erziehungsideologie von Johanna Haarer, nach der Millionen Deutsche ihre Kinder erzogen haben. Dieser autoritäre Erziehungsstil hat alles Zugewandte, Liebevolle und Bedürfnisorientierte zwischen Eltern und Kindern abtrainiert. Das alles ist hochdramatisch für einen kleinen Menschen und für die gesamte Gesellschaft.
Was können Menschen jetzt tun, wenn sie mit den aufbrechenden Traumata nicht zurechtkommen?
Sehr wichtig finde ich, sich mit anderen zusammenzuschließen und sich gemeinsam über die eigenen Ängste auszutauschen. Es ist schwierig, damit ganz allein zu bleiben. Ein Vergleich ist wichtig – das Sich-Ins-Verhältnis setzen mit anderen. Sprechen hilft, Sprechen heilt, und jegliche Auseinandersetzung kann psychische Prozesse positiv in Gang setzen. Manche Menschen machen so etwas natürlich auch mit sich selbst aus, das ist typabhängig. Möglich ist auch am gemeinsam konstruierten Familiengedächtnis zu arbeiten und mit Angehörigen über die Vergangenheit zu sprechen. Menschen besitzen Resilienz und viele Ressourcen und die gilt es zu aktivieren.
Das Trauma meines Großvaters wirkt noch heute nach
Die Journalistin Nora Hespers ließ in ihrem Podcast „Die Anachronistin“ die Geschichte ihres Großvaters aufleben, der im Widerstand gegen das NS-Regime gekämpft hatte. Ihr Buch „Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich“ erschien 2021. Darin beschäftigt sie sich auch mit der Frage, wie der Leidensweg des Opas in der Gegenwart nachwirkt und welche Folgen seine Erlebnisse für sie selbst haben. Wir haben mit Nora Hespers über intergenerationale Traumata vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs gesprochen und ihre Gedanken dazu hier zusammengefasst:
Die Traumata, die mein Vater und mein Großvater durch Verfolgung und Krieg erlebt haben, bewirken etwas in mir. Sie beeinflussen mich in meinem Alltag und in meiner Wahrnehmung gegenüber der Welt. Mein Vater hat außergewöhnliche Verhaltensweisen an den Tag gelegt, um mit seinen Traumata fertig zu werden. Er war unerschütterlich, unangreifbar und nicht zu kritisieren. So behauptete er sich selbst. Er aß verschimmelte Lebensmittel und konnte nichts wegwerfen. Die wichtigsten Dinge hatte er stets bei sich. Sein Auto war voll mit Sachen, die für ihn überlebenswichtig waren, von Körperpflegeartikeln bis zu Kochutensilien.
Mich erschüttert dieser neue Krieg sehr – genau wie alle anderen Kriegsereignisse in der letzten Zeit. Der Zusammenbruch in Afghanistan zum Beispiel hat mich emotional auch sehr angegriffen. Durch meine Auseinandersetzung mit der Geschichte meines Großvaters habe ich das Gefühl, etwas besser nachvollziehen zu können, was Menschen in solchen Situationen erleben und empfinden.
Der Krieg in der Ukraine lässt mich an Flucht denken
Der Ukrainekrieg könnte uns jetzt aber unmittelbar treffen. Zum Beispiel, wenn dort ein Atomkraftwerk beschossen werden soll. Solche Szenarien bewirken bei mir, dass ich vorbereitet sein will, falls man Deutschland verlassen muss. Diese Gedanken waren mir nie ganz fremd – in bedrohlichen Situationen überlege ich immer, wohin ich flüchten könnte und was ich mitnehmen muss. Ob das ein intergenerationales Trauma ist oder einfach durch diese aktuelle Gefahr alle Menschen betrifft, kann ich nicht beurteilen. Aber ich kann mir vorstellen, dass es in Familien mit Kriegserfahrungen ein größeres Bewusstsein dafür gibt, vorsorgen zu müssen.
Gleiche Behandlung für alle Geflüchtete
Mir ist es sehr wichtig, keinen Unterschied zu machen zwischen den Geflüchteten aus der Ukraine und Menschen, die aus Syrien oder afrikanischen Ländern oder vor dem Balkankrieg geflüchtet sind. Wenn Menschen flüchten müssen, geht es nicht darum, wo sie herkommen oder welcher Religion sie angehören. Das ist ein Notzustand, der jede*n treffen kann. Deshalb brauchen auch alle die gleichen Hilfsangebote. Hätte meiner Familie beim Einmarsch der Nazis in die Niederlande niemand geholfen, würde es mich heute nicht geben.
Nationalsozialismus: Keine gemeinsame Erinnerungskultur
In dieser Situation zeigt sich auch wieder deutlich, dass es gar keine gemeinsame europäische Erinnerungskultur rund um den Nationalsozialismus gibt. Jede*r erzählt die Geschichten, die das eigene Land oder die eigenen Leute am besten aussehen lassen. Das gilt auch für uns. Wir erzählen die Widerstandsgeschichten und vergessen darüber die Geschichten der Täter*innen. Wir reden über den Krieg, aber nicht über die Verfolgung. In vielen Ländern, die gegen Deutschland gekämpft haben, gab es überhaupt keine Aufarbeitung. Und vor allem gab es wenig internationalen Austausch.
Kriegshelden oder Friedensprozess?
Wahrscheinlich hätte mein Großvater aufgrund seiner Erfahrungen die Gefahr, die von Russland ausgeht, sehr viel früher erkannt. Er hätte früher zum Widerstand geraten. Mein Vater hätte das Ganze bestimmt sehr radikal bewertet und befunden, dass man Putin einfach umbringen sollte. Ich bin in einer Demokratie aufgewachsen und wünsche mir eine demokratische und diplomatische, gewaltfreie Lösung. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die junge Generation anders antwortet auf diese Konfliktsituation als die ältere. Wir haben verschiedene Erzählungen, die gerade parallel laufen. Die einen heroisieren Kriegs- oder Widerstandshelden, während junge Menschen eher versuchen, den Friedensprozess in den Fokus zu rücken.