Rachel aus Deutschland und Yael aus Israel kannten sich nicht, obwohl sie Cousinen sind. 2013 trafen sie sich auf der Hochzeit einer Verwandten und entschlossen sich, zusammen Informationen über das Schicksal ihrer Familie in der NS-Zeit zu suchen. Über diesen Abschnitt der Familiengeschichte wussten sie bis dahin kaum etwas. Ihre gemeinsame Recherche führte sie sogar zu Dokumenten über verstorbene Angehörige, über die sie zuvor nie gehört hatten – und auch in die Arolsen Archives.

„Als ich Rachel vor ungefähr acht Jahren zum ersten Mal traf, wusste sie noch weniger als ich über unsere Familie und wir beschlossen, mit der Suche zu beginnen,“ erzählt Yael. „Ich wollte alles über unsere Familie erfahren, um einen Stammbaum für mich, meine Kinder und meine Enkel zu erstellen. So viele Informationen dazu fehlten. Deshalb hatte ich bei der Recherche das Gefühl, meine Wurzeln zu finden. Alles, was Rachel fand, machte mich froh und zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichen würde.“

 

Portrait Yael

»Ich hatte bei der Recherche das Gefühl, meine Wurzeln zu finden.« 

Yael, Angehörige der Familie Smedresman

 

Vor der Recherche wussten Yael und Rachel nicht, dass einige ihrer Vorfahren von den Nazis ermordet worden waren. Rachel begann mit der Internetrecherche und fand im Gedenkbuch des Bundesarchivs zwei Männer mit ihrem Familiennamen: Alfred und Robin Smedresman. Dass Alfred und Robin die Brüder ihres und Yaels Großvaters Bernhard waren, erfuhr Rachel über Recherchen in verschiedenen Archiven, auch in den Arolsen Archives.

Recherche in den Arolsen Archives

„Mein Mann hatte einen Zeitungsartikel über die Arolsen Archives gelesen und daraufhin schickte ich eine Suchanfrage ab. Die Antwort kam nach einigen Wochen und war sehr berührend. Beispielsweise waren Todesurkunden dabei. So kam auch wieder ein neuer Name dazu: Hildegard, die Frau von Robin.“

Die Brüder Alfred und Robin sowie Alfreds Frau Magdalena überlebten die nationalsozialistische Verfolgung nicht. Sie flohen von Berlin nach Belgien, konnten sich aber dort nicht vor der nationalsozialistischen Verfolgung retten. Weil sie Juden waren, deportierten die Nazis sie nach Auschwitz und ermordeten sie. Von Robin hatte Yael als Kind schon einmal gehört – aber nicht von seinem Schicksal. Sie geht davon aus, dass ihre Mutter nicht darüber sprechen wollte oder einfach auch nicht mehr wusste.

 

Portraitphoto von Hildegard Smedresman
Hildegard Smedresman (Foto: Entschädigungsbehörde Berlin)
Portraitphoto von Hildegard Smedresman
Liste der jüdischen Personen, die von Drancy aus am 19.8.1942 nach Auschwitz deportiert wurden, darauf zu lesen: Robin Smedresman (Foto: Arolsen Archives)

Wegen „Rassenschande“ verhaftet

Mit seiner Frau Hildegard war Robin nur ein halbes Jahr lang verheiratet. Für die Hochzeit war Hildegard zum jüdischen Glauben konvertiert und wegen „Rassenschande“ kurze Zeit später verhaftet. Als sie aus der Haft freikam, hatten die Nazis ihren Mann, ihren Schwager und ihre Schwägerin bereits deportiert.

 

„Ich frage mich, wie sehr die beiden sich geliebt haben müssen, um diesen Weg zu gehen? Hildegard heiratete nie wieder und blieb kinderlos“, so Rachel. Über die Berliner Entschädigungsbehörde fand sie zu fast allen Familienangehörigen eine Akte – auch zu ihren Großeltern, die den Holocaust überlebt hatten und zu ihrem Vater Benni, den sie im Alter von vier Jahren verloren hatte. „Die Nationalsozialisten verhafteten meinen Großvater Bernhard 1935 und zwangen ihn und seine Familie später zur Ausreise. So überlebten sie den Holocaust in Palästina.“

 

Opfer einer NS-Tötungsaktion

Außerdem stellte sich heraus, dass es einen weiteren Bruder gab: David, der vom Amtsgericht Charlottenburg für tot erklärt wurde. In seiner Akte des Amtsgerichts steht, dass er ab 1923 aufgrund einer psychischen Erkrankung in einer Heilstätte bei Berlin untergebracht war und vorher wohl Student war. Sein letzter Wohnort war in der Gormannstraße im Berliner Scheunenviertel, wo 1923 ein Pogrom stattfand. In einer eidesstaatlichen Erklärung ging Rachels Großmutter davon aus, dass David Opfer einer Tötungsaktion der Nazis war.

 

Gebäude der Gormannstraße 14 in Berlin

Laut einem Antrag auf Schicksalsklärung, den die Arolsen Archives aufbewahren, war David Smedresmans zuletzt bekannter Wohnort in der Gormannstraße 14 in Berlin. (Foto: Kvikk)

 

Trauer und Dankbarkeit

Durch die Recherche bekamen Yael und Rachel zum ersten Mal eine Vorstellung davon, wie groß ihre Familie hätte sein können – hätten Alfred, Magdalena, Robin und David überlebt. Gleichzeitig sind die dankbar, viel über das Schicksal der vier Angehörigen erfahren zu können und ihnen nun gedenken zu können. „Trauer und Dankbarkeit halten sich in etwa die Waage. Manchmal macht es mich unglaublich traurig, wenn ich überlege, in was für einer großen Runde wir um den Tisch sitzen könnten. Und auch, wenn ich überlege, wie sie sich gefühlt haben müssen, als sie das durchmachen mussten, die Angst und die Hilflosigkeit“, fasst Rachel ihre Emotionen zusammen.

„Aber dann gibt es auch die anderen Momente, wenn ich sehe, was ich gefunden habe, und es fühlt sich für mich so an, als ob ich sie nach Hause bringe. Sie sind nicht mehr vergessen, und das macht mich froh,“ fasst Rachel ihre Emotionen zusammen.“

 

Rachel Smedresman am Schreibtisch beim Recherchieren

»Trauer und Dankbarkeit halten sich in etwa die Waage. Manchmal macht es mich unglaublich traurig, wenn ich überlege, in was für einer großen Runde wir um den Tisch sitzen könnten.« 

Rachel, Angehörige von Robin und Hildegard Smedresman

 

Traumata und Resilienz sind erblich

Die Erinnerungsarbeit der Cousinen ist nicht abgeschlossen. Ihnen ist es wichtig, an ihre Verwandten zu erinnern, denn viele Jahre wusste niemand, dass sie existierten. Auf die Frage, was Rachel gerne mit anderen Angehörigen von Opfern der NS-Verfolgung teilen möchte, sagt sie: „Natürlich muss jeder selber wissen, wie er damit umgehen soll, aber ich glaube, dass es wichtig ist, sich damit zu beschäftigen. Wer soll es machen, wenn nicht wir? Ich habe das tiefe Gefühl, ein gutes Gefühl, einer Verantwortung gerecht zu werden, die ich als Angehörige habe. Und es hilft mir, auch vieles von mir selber besser zu verstehen. Die Wissenschaft kennt ja mittlerweile die Vererbung von Traumata, aber ich bin sicher, dass auch Resilienz vererbt werden kann.“

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