Marie Šupíková: Leben fürs Erinnern
Als Marie Šupíková zehn Jahre alt war, zerstörten die Nationalsozialisten ihr Heimatdorf Lidice und ermordeten fast alle Bewohner. Nur neun Kinder überlebten und wurden zur Zwangsgermanisierung an deutsche Familien vermittelt. Marie war eines dieser neun Kinder. Im Alter von 88 ist sie im März 2021 gestorben.
„Ich wollte nach Hause“. Mit diesem Satz erklärte Marie Šupíková, geb. Doležalová, im Interview mit der Journalistin Dorothee Schmitz-Köster, warum sie Jahre nach dem Massaker von Lidice in ihren wiederaufgebauten Heimatort zurückkehrte. Dorothee Schmitz-Köster traf Marie 2012, um zu erfahren, inwieweit die SS-Organisation Lebensborn in die Verschleppung der tschechischen Kinder involviert war. Im Interview erzählt sie von der beeindruckenden Begegnung.
Wie haben Sie Marie Šupíková erlebt?
Ich habe eine Frau erlebt, die mit 80 Jahren so etwas von lebendig, erzählfreudig und dabei so authentisch war! Nicht wie jemand, der alles schon 100 Mal, 200 Mal erzählt hat. Sie war ganz präsent und lebendig. Und sie hat mir einen wichtigen Satz mitgegeben: „Wenn ich spreche, dann sehe ich es“. Das heißt, sie erlebt es, sie setzt sich dem immer noch einmal aus, was sie erlebt hat.
Wie kam es zu dem Massaker von Lidice und welche Folgen hatte es für Marie?
Sie hat mir die Geschichte der Tragödie des Dorfes Lidice von Anfang bis Ende erzählt. Nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich, den stellvertretenden Protektoratschef von Böhmen und Mähren und Chef des Reichssicherheitshauptamtes, der durch dieses Attentat gestorben ist, hat man sich in den Nazi-Kreisen zu einer Racheaktion entschlossen und das Dorf Lidice in den Blick genommen. Dort hatte angeblich einer der Attentäter eine Nacht verbracht, was erwiesenermaßen nicht stimmt.
Man hat dieses Dorf am 10. Juni 1942 komplett ausradiert, alle Männer erschossen und die Frauen in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Die 89 Kinder des Dorfes wurden nach dem Augenschein selektiert, nur neun von ihnen überlebten. In einem Kinderheim in der Nähe von Posen wurden Marie und die anderen Kinder „umerzogen“, sie wurden „eingedeutscht“. Tschechisch sprechen war verboten und wurde hart bestraft. In der Zeit bekam Marie auch einen deutschen Namen und wurde als Waisenkind ausgegeben. Nach einem Jahr kam sie dann zu einer deutschen Familie, in der sie Ingeborg Schiller hieß.
»In einem Kinderheim in der Nähe von Posen wurden Marie und die anderen Kinder ›umerzogen‹, sie wurden ›eingedeutscht‹.«
Dorothee Schmitz-Köster, Journalistin
Wie ging es dann für sie weiter?
Das Mädchen lebte drei Jahre lang in dieser Familie und dort passierte genau das, was die Nationalsozialisten wollten. Sie vergaß ihre Sprache, das Tschechische, komplett! Aber sie hat immer gewusst, sie ist Marie! Im Oktober 1946 wurde sie gefunden, ist zurückgekehrt und hat ihre Mutter getroffen, die Ravensbrück überlebt hatte, leider als schwerkranke Frau. Das Wiedersehen mit ihrer Tochter hat sie nur um vier Monate überlebt, dann ist sie an Tuberkulose gestorben. Damit hatte Marie ihre engste Familie verloren, denn ihr Vater und ihr Bruder waren in Lidice erschossen worden. Aufgewachsen ist sie dann bei ihrer Tante in Kladno. Mit 15 Jahren sagte Marie als eine von drei Zeuginnen des Massakers von Lidice beim Nürnberger Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt aus.
Warum ist sie später nach Lidice zurückgegangen?
Sie hat gesagt: Wir wollten nach Hause. Das Dorf ist 1947 an anderer Stelle wiederaufgebaut worden. Marie ist 1955 mit ihrer vier Monate alten Tochter und ihrem Mann dorthin zurückgekehrt. Sie ist ein starker Mensch und wollte sich offenbar mit dem Geschehenen konfrontieren. Und sie wollte unbedingt, dass die Erinnerung lebendig bleibt. Damit meint sie nicht nur den Akt des Erinnerns, sondern auch die Kraft, die Energie, den Überlebenswillen.
Wie behalten Sie Marie Šupíková in Erinnerung?
Ich bin wirklich sehr glücklich, dass ich sie getroffen habe, diese eindrucksvolle Frau, so voller Energie, Lebendigkeit und Stärke. Es war ein wunderbares Erlebnis, sie anzuschauen, ihr zuzuhören, sie fragen zu können.