„Mein Vater hat überlebt, aber nicht mehr gelebt“
„In mir kommen viele Emotionen hoch“, sagt Arnold van Dam. „Es ist bewegend, diese persönlichen Dinge meines Vaters in Händen zu halten.“ Es geht um ein Portemonnaie mit Fotos, Briefen und Papieren seines Vaters, das der Niederländer gestern – 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – vom Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen zurückerhalten hat. Die Nationalsozialisten hatten es Nathan van Dam bei der Einlieferung ins Konzentrationslager Neuengamme abgenommen.
Die Übergabe fand im Rahmen einer Veranstaltung in der Gedenkstätte Amersfoort statt, zu der insgesamt 14 niederländische Familien kamen. Arnold van Dam brachte seinen Bruder Marcel und dessen beiden Kinder mit. „Die Brieftasche weckt Erinnerungen. Sie öffnet mich für die Geschichte meines Vaters“, sagt Arnold. Nathan hatte mit seiner ersten Frau in Rotterdam gelebt, bis die Gestapo die jüdische Familie Anfang 1943 verhaftet und zunächst in das Polizeigefängnis Scheveningen eingeliefert hat. Am 9. Oktober 1943 wurde Nathan in das Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort überführt und unter der Häftlingsnummer 2795 registriert. Genau ein Jahr später transportierten ihn die Nazis in das KZ Neuengamme bei Hamburg. Seine Frau wurde in Sobibor ermordet. Neben ihr verlor Nathan viele weitere Familienangehörige.
„Mein Vater hat überlebt, aber nicht mehr gelebt“, so der Sohn. „Er litt unter Bindungsängsten und heiratete noch zweimal. Die Angst, einen lieben Menschen wieder zu verlieren, war übermächtig für ihn. Auch die Beziehung zu uns Söhnen blieb oberflächlich.“ Dennoch erlebte Arnold seinen Vater als einen starken Menschen. „Er hat mir gesagt, dass er durchkommen wollte“, erzählt der 51-Jährige. „Seinen Namen und seine Geburtsdaten hat er während der Haft immer unterschiedlich angegeben.“ Bis zu seinem Tod 1988 habe sich sein Vater intensiv mit der Naziverfolgung beschäftigt. „Bücher über Bücher sowie Kriegsberichte bewahrte er über die schreckliche Zeit auf. Auch die jährlichen Gedenkveranstaltungen in Amersfoort besuchte er regelmäßig“, berichtet Arnold. „Nur mit uns konnte er kaum darüber sprechen.“
Die beiden Söhne und die zwei Enkeltöchter von Nathan blättern in Amersfoort jedes einzelne Fundstück in der vergilbten Brieftasche interessiert durch und versuchen die Personen auf den Fotos zu identifizieren. Auch die Dokumente aus dem Archiv des ITS studiert die Familie. „Ich kannte meinen Großvater nicht“, erzählt die 16-jährige Enkelin Martine. „Es ist etwas Besonderes für mich, heute bei der Übergabe dabei zu sein. Ich habe großes Interesse an der Geschichte.“
Der Kontakt zu den Familien kam dank der Initiative von Gert van Dompseler und Pieter Dekker von Stichting October’44 zustande. Die beiden Niederländer recherchieren ehrenamtlich seit Monaten nach Familienangehörigen. Neben der Übergabe der Brieftaschen gab es auch eine Führung über das Gelände der Gedenkstätte. „Das meiste, was wir heute gehört und gesehen haben, ist für uns neu“, sagt Arnold. „Sie haben mich ein bisschen froh gemacht.“