„Mein Vater trug mich immer bei sich“
Als Pieter Dekker und Gert von Dompseler am 19. September 2007 zum ersten Mal den International Tracing Service (ITS) besuchten, brachten sie die Namen von 660 Männern aus ihrem Heimatort Putten in den Niederlanden mit. Die Männer im Alter zwischen 17 und 50 waren von der Wehrmacht am 2. Oktober 1944 verhaftet und in das Lager Amersfoort verschleppt worden. Frauen, Kinder und alte Menschen mussten das Dorf verlassen. Viele der Häuser wurden niedergebrannt.
In der Nacht zum 1. Oktober 1944 hatten niederländische Partisanen in der Nähe von Putten vier deutsche Offiziere in einem Auto beschossen, einer der Offiziere starb. Die Racheaktion, die folgte, gehört zu den systematischen Kriegsverbrechen, die die Wehrmacht verübte. Von den 588 Männern, die von Amersfoort in das KZ Neuengamme deportiert wurden, überlebten nur 48 und kehrten nach der Befreiung zurück nach Putten. Weitere fünf von ihnen starben an den Folgen der KZ-Haft.
Die „Stichting Oktober 44“, in der sich Pieter Dekker und Gert von Dompseler ehrenamtlich engagieren, hat sich zum Ziel gesetzt, die Ereignisse rund um dieses Verbrechen zu erforschen und für die Nachwelt lebendig zu halten. Ihre Recherchen führen sie bis heute immer wieder zum ITS. Der erste Besuch 2007 war auch für die Geschichte des ITS etwas Besonderes: Erst kurz zuvor war die Entscheidung gefallen, das Archiv des ITS für Forscher und Angehörige zu öffnen. Die beiden Niederländer hatten davon in der Zeitung gelesen und machten sich gleich auf den Weg.
Neben den Dokumenten über die Deportierten fanden Pieter Dekker und Gert von Dompseler auch persönliche Gegenstände der nach Neuengamme deportierten Männer. Diese sogenannten „Effekten“ sind kein Archivgut, sondern werden aufbewahrt, um sie zurückzugeben. Den Besitz von fünf Männern nahmen sie sofort mit, weil ihnen die Familien bekannt waren. Sie fuhren direkt zu einem Überlebenden. „Es war ein sehr bewegender Moment, ihm seine Sachen und die seines Vaters zu übergeben“, erinnert sich Pieter Dekker.
Danach machen die beiden Männer die Rückgabe der Gegenstände zu ihrem persönlichen Anliegen. „Die Suche nach den Angehörigen und Überlebenden war nicht immer einfach. Wenn jemand einen sehr häufigen Namen hatte und wir sonst keine Informationen zu ihm fanden, riefen Gert und ich einfach alle an. Er begann am Anfang der Liste und ich am Ende.“ Pieter Dekker schmunzelt bei dem Gedanken.
Ihre Beharrlichkeit lohnte sich. Sie konnten viele Familien finden und organisierten Veranstaltungen zur Rückgabe der persönlichen Dinge. Hierfür reisten Mitarbeiter*innen des ITS nach Amersfoort. Pieter Dekker erzählt von den Zweifeln, die sie zunächst hatten: „Am Anfang waren wir unsicher, ob nicht besser wir die Sachen zurückgeben. Aber es hatte für die Menschen eine ganz besondere Symbolkraft, die Gegenstände, die ihren Angehörigen von den Deutschen abgenommen worden waren, auch von Deutschen zurückgegeben zu bekommen.“ ITS-Mitarbeiterin Elke Helmentag erinnert sich an eine Begegnung, die sie besonders bewegte: „Ich überreichte einem Mann die Brieftasche seines Vaters. Als er sie öffnete, fand er ein Photo von sich selbst als Baby. ‚Mein Vater trug mich immer bei sich,‘ sagte er und begann zu weinen.“
Das Projekt ist auch über zehn Jahre später noch nicht abgeschlossen. Noch immer gibt es im Archiv Gegenstände der verschleppten Niederländer. „Uns fehlt einfach die Zeit für die intensiven Recherchen, die dafür nötig sind“, bedauert Gert von Dompseler.