Nach dem Holocaust: Das Schweigen in Ungarn
In vielen Familien herrschte nach Ende des Zweiten Weltkriegs Sprachlosigkeit. Zum Teil bis heute. Marianne Kiss beendete das Schweigen und schrieb ein Buch über ihre Familiengeschichte.
Marianne war neun Jahre alt, als ihre Mutter Ilona 1944 das letzte Lebenszeichen von ihrem Ehemann und Mariannes Vater Arpad erhielt. Später ging die Familie davon aus, dass Arpad ins Arbeitslager Bor, im heutigen Serbien, deportiert wurde. Ilona nutzte alle Möglichkeiten, um nach ihm zu suchen. Dazu schreibt Marianne:
„Dass du nicht nur tatenlos gewartet hast, sondern aktiv suchtest, davon zeugen Briefe, Dokumente. (…) Eins wusstest Du sicher: wenn Arpad am Leben ist, wird er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sich nach Hause, zu seiner Familie, durchzuschlagen. Aber er kam nie an. Aus dem Österreichischen Kitzbühel antwortete dir am 27. Mai 1946 das Rote Kreuz, dass noch keine definitiven Angaben eingetroffen wären. Das Vatikanische Auskunftsbüro schrieb auch in Deutsch das Gleiche.“
Recherche in den Arolsen Archives
Viele Jahrzehnte später fand Marianne heraus, dass die Nationalsozialisten ihren Vater in verschiedene Konzentrationslager verschleppt hatten, darunter Sachsenhausen, Buchenwald und das Buchenwald-Außenlager Ohrdruf. Am 15. Januar 1945 erschien Arpad Schwarczmanns Name noch in einer Veränderungsmeldung des KZ Buchenwald über Häftlinge des Kommandos Ohrdruf. Danach verlor sich seine Spur. 1985 fragte Marianne zum ersten Mal in unserem Archiv an, um mehr über das Schicksal ihres Vaters zu erfahren.
Zur Trauer kam auch eine Art von Wut auf ihren Vater, wie sie es formuliert:
„Vater war ein Tabuthema, weil so oft wir ihn erwähnten, war der Schmerz, dass wir über ihn nur in Vergangenheitsform reden konnten, zu groß. Später nahm ich ihm (heimlich) übel, dass er, trotz seiner großen Liebe zu uns, nicht versucht hatte sich zu verstecken, zu fliehen.“
Noch heute, mit 87 Jahren, arbeitet Marianne daran, ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten und begann 1997 – nach dem Tod ihrer Mutter – das alles aufzuschreiben. Wie wichtig dieser Schreibprozess für sie war, klingt in den ersten Zeilen durch, die sie an ihre Mutter richtete:
»Liebe Mama! Dir schreibe ich und an dich adressiere ich meinen Brief, der größtenteils das enthält, was ich von dir weiß, dennoch empfinde ich es als wichtig, dass wir einiges zwischen uns klären. Unerledigtes, über das wir nie gesprochen haben, entweder, weil wir es nicht wollten oder nicht konnten. Nun ist die Zeit gekommen. Ich versuche es.«
Marianne Kiss, Autorin und Grafikdesignerin
Kindheitserinnerungen an Chanukka
In ihrem Buch beschreibt Marianne auch ihre eigenen Kindheitserinnerungen. Schöne, wie etwa über Chanukka: „Eine Weihnachtsfeier kam bei uns nicht in Frage, Chanukka war das Fest im Winter, nahe an Weihnachten, da bekamen wir Kinder kleine Geschenke.“
Im selben Absatz beschreibt sie, welch ein Schock die Verfolgung der Juden und Jüdinnen für ihren Großvater gewesen sein muss: „Meinen Großvater Hajnal sah ich nur in der Synagoge mit Gebetschal und Gebetsriemen an den Armen, an gewöhnlichen Wochentagen fiel es ihm nie ein, zu beten. Er war ein aufgeklärter Mann, für ihn konnte die Assimilation erfunden worden sein. Die Judengesetze mussten ihn wie eine kalte Dusche treffen.“
»Wie konnte es geschehen, dass er, ein so weitsichtiger, weitgereister Mensch, nichts von all den Gräueltaten, die in Deutschland vor sich gingen, je etwas gehört hatte? Wie viele andere hatte auch er die sich nähernde Gefahr nicht ernst genommen.«
Marianne Kiss, Tochter von Ilona und Arpad Schwarczmann
Überleben im Luftschutzbunker
Marianne selbst hat den Holocaust in ihrer Heimatstadt Budapest als Kind in Luftschutzbunkern überlebt und trägt bis heute dazu bei, die Erinnerung an die ungarischen Opfer der Shoah zu bewahren. Denn Bildung ist ihrer Meinung nach der Schlüssel gegen Antisemitismus.
Zum Interview mit Marianne Kiss
Im Interview spricht Marianne über das Schweigen in Ungarn und wie sie auf die Idee kam, ihre Familiengeschichte aufzuschreiben.
Hat Ihre Familie über die Zeit während des Zweiten Weltkriegs gesprochen?
In Ungarn herrschte nach dem Krieg großes Schweigen über die Verfolgung durch die Nazis. Ich denke, dass dies eine unausgesprochene politische Entscheidung der Kommunistischen Partei war. Auch meine Familie und andere Familien schwiegen. In erster Linie waren wir froh, am Leben zu sein, und wollten uns nicht an das Grauen erinnern. In der Schule gab es in den Geschichtsbüchern keinen Satz über die Judenverfolgung. Sie schrieben über „Verfolgte“, aber sie bezogen sich auf die „illegalen Kommunisten“, nie auf die Juden. In der Schule wurde dem Religionsunterricht ein Ende gesetzt.
Was wurde über die Arbeits- und Konzentrationslager erzählt?
Ich habe zwei Onkel und eine Tante, die in Konzentrationslagern waren – in Theresienstadt, Lichtenwörth und Bergen-Belsen. Sie kamen Ende 1945 und 46 nach Hause. Sie waren sehr mager, meine Tante, die eine schöne Frau war, hatte keine Haare – sie hatte nach dem Krieg Typhus. Aber das Interessante ist, dass sie nie darüber sprachen, was mit ihnen in den Lagern geschah. Vielleicht sprachen sie mit meiner Mutter oder Großmutter, aber ich war erst ein 10-jähriges Kind, vor mir sprachen sie nicht.
Wie lebten Jüdinnen und Juden in Budapest nach dem Krieg? Wie wurde Ihre Familie in die Gesellschaft integriert?
Nach dem Krieg hatten Juden und Nicht-Juden eine sehr schwierige Situation. Budapest lag in Trümmern – und meine Mutter und die anderen Verwandten halfen Tag für Tag, die Trümmer zu beseitigen. Sie bekamen dafür eine oder zwei Tassen Tee von der Stadtverwaltung. Nach der Schule wollte ich an der Universität studieren, aber ich war ein „schwarzes Schaf“, weil in meiner Geburtsurkunde der Beruf meines Vaters als „Schuhfabrikant“ angegeben war und ich aus diesem Grund von allen Universitäten in Ungarn ausgeschlossen wurde. Ich war gut im Zeichnen und ging einer Beschäftigung nach, zuerst in der Kartographie und später als Grafiker – es gibt viele Bücher mit meinen grafischen Arbeiten. (Im Jahr 1985 hatte ich eine erfolgreiche Ausstellung.)
Nach dem Tod Ihrer Mutter haben Sie große Teile der Familiengeschichte in Form von Briefen in ihrem Nachlass gefunden. Welche neuen Informationen haben Sie auf diese Weise erhalten? Was hat Sie am meisten überrascht?
Nach dem Tod meiner Mutter fand ich ein großes Paket mit Familienbriefen. Die größte Überraschung war für mich, als ich alle Briefe aus der Zeit fand, als mein Vater im Arbeitslager war und er und meine Mutter versuchten, miteinander Kontakt aufzunehmen. Später ordnete ich alle diese Briefe und druckte sie aus (nur für mich und meine lieben Töchter).
Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über Ihre Familie zu schreiben und zu veröffentlichen?
Die Idee, ein Buch über meine Familie zu schreiben und zu veröffentlichen, kam mir nach dem Tod meiner Mutter. Ich liebe die große Familie von Mama, Papa und meinen Großeltern und wollte ihnen ein Denkmal setzen. Und in diesem Buch habe ich um meine verstorbenen Lieben getrauert.
Wie denken Sie über das Gedenken an den Holocaust in Ungarn heute?
In Ungarn gibt es heute in jüdischen Kreisen viele Gedenkfeiern und -veranstaltungen. Aber meiner Meinung nach mögen die Menschen auf der Straße das gar nicht und fluchen darüber.
Was hilft gegen Antisemitismus, Verfolgung und Hass?
Oh je, vielleicht mit Bildung. Aber wenn ich mich umschaue, sind die meisten Länder rechtslastig und haben mit Antisemitismus zu kämpfen.
Wie gehen Ihre Kinder und Enkelkinder heute mit der Familiengeschichte um? Sind sie daran interessiert?
Meine Tochter hat geholfen, das jüdische Gedenken zu pflegen, sie hat für viele Menschen die Stolpersteine besorgt und bei Herrn Demnig bestellt. Auch mein Vater und Großvater haben Stolpersteine bei sich zu Hause, ihrem letzten festen Wohnsitz. Meine Enkelkinder interessieren sich auch für die Geschichten und beteiligen sich an den Veranstaltungen.
Mariannes Aufzeichnungen wurden 2015 in „Yellow-Star Houses, People, Houses, Fates.“ veröffentlicht. Der Text wurde ins Deutsche übersetzt, bisher sucht Marianne noch nach einem Verlag, der ihn veröffentlichen möchte. Bei Interesse schreiben Sie uns bitte eine E-Mail an: pr@arolsen-archives.org