In vielen Familien herrschte nach Ende des Zweiten Weltkriegs Sprachlosigkeit. Zum Teil bis heute. Marianne Kiss beendete das Schweigen und schrieb ein Buch über ihre Familiengeschichte.

Marianne war neun Jahre alt, als ihre Mutter Ilona 1944 das letzte Lebenszeichen von ihrem Ehemann und Mariannes Vater Arpad erhielt. Später ging die Familie davon aus, dass Arpad ins Arbeitslager Bor, im heutigen Serbien, deportiert wurde. Ilona nutzte alle Möglichkeiten, um nach ihm zu suchen. Dazu schreibt Marianne:

„Dass du nicht nur tatenlos gewartet hast, sondern aktiv suchtest, davon zeugen Briefe, Dokumente. (…) Eins wusstest Du sicher: wenn Arpad am Leben ist, wird er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sich nach Hause, zu seiner Familie, durchzuschlagen. Aber er kam nie an. Aus dem Österreichischen Kitzbühel antwortete dir am 27. Mai 1946 das Rote Kreuz, dass noch keine definitiven Angaben eingetroffen wären. Das Vatikanische Auskunftsbüro schrieb auch in Deutsch das Gleiche.“

Mariannes Eltern bei ihrer Hochzeit, 1934. © Marianne Kiss

Die Schwarczmanns auf ihrer Hochzeitsreise. © Marianne Kiss

 

Recherche in den Arolsen Archives

Viele Jahrzehnte später fand Marianne heraus, dass die Nationalsozialisten ihren Vater in verschiedene Konzentrationslager verschleppt hatten, darunter Sachsenhausen, Buchenwald und das Buchenwald-Außenlager Ohrdruf. Am 15. Januar 1945 erschien Arpad Schwarczmanns Name noch in einer Veränderungsmeldung des KZ Buchenwald über Häftlinge des Kommandos Ohrdruf. Danach verlor sich seine Spur. 1985 fragte Marianne zum ersten Mal in unserem Archiv an, um mehr über das Schicksal ihres Vaters zu erfahren.

Zur Trauer kam auch eine Art von Wut auf ihren Vater, wie sie es formuliert:

„Vater war ein Tabuthema, weil so oft wir ihn erwähnten, war der Schmerz, dass wir über ihn nur in Vergangenheitsform reden konnten, zu groß. Später nahm ich ihm (heimlich) übel, dass er, trotz seiner großen Liebe zu uns, nicht versucht hatte sich zu verstecken, zu fliehen.“

 

Arpad Schwarczmann, 1942. © Marianne Kiss
Die Häftlingspersonalkarte von Arpad Schwarczmann aus dem KZ Buchenwald. © Arolsen Archives

Von Ungarn nach Ohrdruf

Die Nazis deportierten Arpad am 13. November 1944 von Wien ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Am 24. November 1944 transportierte man ihn weiter ins KZ Buchenwald zusammen mit 499 weiteren Sachsenhausen-Häftlingen, von denen die überwältigende Mehrheit noch an demselben Tag in Buchenwalds Außenlager Ohrdruf gebracht wurde – darunter auch Arpad Schwarczmann.

 

Noch heute, mit 87 Jahren, arbeitet Marianne daran, ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten und begann 1997 – nach dem Tod ihrer Mutter – das alles aufzuschreiben. Wie wichtig dieser Schreibprozess für sie war, klingt in den ersten Zeilen durch, die sie an ihre Mutter richtete:

 

»Liebe Mama! Dir schreibe ich und an dich adressiere ich meinen Brief, der größtenteils das enthält, was ich von dir weiß, dennoch empfinde ich es als wichtig, dass wir einiges zwischen uns klären. Unerledigtes, über das wir nie gesprochen haben, entweder, weil wir es nicht wollten oder nicht konnten. Nun ist die Zeit gekommen. Ich versuche es.«

Marianne Kiss, Autorin und Grafikdesignerin

 

Kindheitserinnerungen an Chanukka

In ihrem Buch beschreibt Marianne auch ihre eigenen Kindheitserinnerungen. Schöne, wie etwa über Chanukka: „Eine Weihnachtsfeier kam bei uns nicht in Frage, Chanukka war das Fest im Winter, nahe an Weihnachten, da bekamen wir Kinder kleine Geschenke.“

Im selben Absatz beschreibt sie, welch ein Schock die Verfolgung der Juden und Jüdinnen für ihren Großvater gewesen sein muss: „Meinen Großvater Hajnal sah ich nur in der Synagoge mit Gebetschal und Gebetsriemen an den Armen, an gewöhnlichen Wochentagen fiel es ihm nie ein, zu beten. Er war ein aufgeklärter Mann, für ihn konnte die Assimilation erfunden worden sein. Die Judengesetze mussten ihn wie eine kalte Dusche treffen.“

 

»Wie konnte es geschehen, dass er, ein so weitsichtiger, weitgereister Mensch, nichts von all den Gräueltaten, die in Deutschland vor sich gingen, je etwas gehört hatte? Wie viele andere hatte auch er die sich nähernde Gefahr nicht ernst genommen.«

Marianne Kiss, Tochter von Ilona und Arpad Schwarczmann

 

Überleben im Luftschutzbunker

Marianne selbst hat den Holocaust in ihrer Heimatstadt Budapest als Kind in Luftschutzbunkern überlebt und trägt bis heute dazu bei, die Erinnerung an die ungarischen Opfer der Shoah zu bewahren. Denn Bildung ist ihrer Meinung nach der Schlüssel gegen Antisemitismus.

 

Zum Interview mit Marianne Kiss

Im Interview spricht Marianne über das Schweigen in Ungarn und wie sie auf die Idee kam, ihre Familiengeschichte aufzuschreiben.

 

Mariannes Aufzeichnungen wurden 2015 in „Yellow-Star Houses, People, Houses, Fates.“ veröffentlicht. Der Text wurde ins Deutsche übersetzt, bisher sucht Marianne noch nach einem Verlag, der ihn veröffentlichen möchte. Bei Interesse schreiben Sie uns bitte eine E-Mail an: pr@arolsen-archives.org

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