Wohin gingen Menschen, die nach Kriegsende nicht mehr nach Hause zurückkehren konnten oder wollten? Wo und wie fanden sie ein neues Zuhause? Der neue Band „Beyond Europe“ der Reihe „Fundstücke“ untersucht mithilfe ausgewählter Dokumente der Arolsen Archives die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in Afrika und Asien. Die Publikation wurde im Auftrag der Arolsen Archives von Christian Höschler und Akim Jah herausgegeben.

In Europa gab es in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg etwa zehn Millionen sogenannte Displaced Persons (DPs). Sie waren während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis verschleppt worden oder flohen im Kontext des frühen Kalten Kriegs. Die International Refugee Organization (IRO) half diesen Menschen, die nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückkehren konnten oder wollten, bei der Auswanderung. Dies betraf etwa eine Million Menschen, überwiegend DPs aus Mittel- und Osteuropa.

In „Beyond Europe“ stehen Dokumente im Fokus, die eher unbekannte Migrationsereignisse der damaligen Zeit in Afrika und Asien dokumentieren. Wer waren die Menschen, die gezwungen waren, ungewöhnliche Lebenswege einzuschlagen? Wo ließen sie sich schließlich nieder? Eine Informationsquelle sind die in den Arolsen Archives aufbewahrten „Care and Maintenance“-Fragebögen („CM/1“) – allein zu polnischen DPs, die nach Afrika oder Asien gelangten, gibt es davon über 700. Insgesamt flüchteten etwa 20.000 polnische Staatsbürger*innen noch während des Zweiten Weltkriegs über sowjetische Staaten in britische Kolonien Afrikas. Sie fanden sich in Flüchtlingslagern u.a. in den heutigen Staaten Tansania, Sambia und Zimbabwe wieder. Andere Flüchtlinge aus Mittel- und Osteuropa, insbesondere Ärzte und Krankenschwestern, gelangten nach Ende des Krieges nach Pakistan.

 

Reise ins Unbekannte

Julia Devlin, Historikerin am Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg, geht in ihrem Aufsatz „Safe Haven Africa: Polish Displaced Persons in Africa During and After World War II” auf die Geschichten der Familien Biegus und Kaskow ein. Sie nutzt dazu CM/1-Akten, die biografische Details und Stationen der Flucht und Migration zeigen, um die Schicksale polnischer DPs in Afrika nachzuverfolgen. Dabei beschreibt sie Migration auch als vielschichtigen und administrativen Verhandlungsprozess.

 

Antrag (CM/1) auf IRO-Unterstützung, eingereicht von Jan Kaskow
Brief von Trudy Clarfelt, IRO London, an IRO Kampala, CM/1-Akte Jan Kaskow

Auf der Suche nach einer neuen Heimat

Nachdem die Familie Kaskow aus Polen mehrere Jahre in DP-Lagern in Iran, Indien, Uganda und Kenia gelebt hatte, wollte sie in England eine neue Heimat finden. Ihre Pläne scheiterten zunächst, aber im November 1950 wanderten Jan und Jagwida mit ihren drei Töchtern nach Großbritannien aus.

 

 

Akim Jah, Historiker und Mitarbeiter bei den Arolsen Archives, beschäftigt sich in seinem Beitrag „Resettlement of Specialists: European Displaced Persons in Pakistan in the Aftermath of World War II” mit der Umsiedlung von mittel- und osteuropäischen Fachkräften nach Pakistan. Im Rahmen des Specialist Resettlement Program der IRO, das auch andere Staaten als Zielländer beinhaltete, wurden etwa 1.000 Fachkräfte vermittelt. Jah analysiert im Fall Pakistan, wie die DPs in den neu gegründeten Staat integriert wurden, warum ein dauerhafter Verbleib scheiterte und viele DPs nach nur wenigen Jahren nach Nordamerika weiteremigrierten.

„Die DPs wollten aus Europa weg, suchten nach einer Perspektive. Das neu gegründete Land Pakistan hatte Bedarf an Arbeitskräften. So kam es, dass sie sich dort niederließen. Aus heutiger Perspektive scheint es bemerkenswert, dass Flüchtlinge aus Europa in Pakistan Zuflucht gefunden haben. Das stellt etablierte Vorstellungen von Fluchtbewegungen ‚auf den Kopf‘“, erklärt Akim Jah.

 

20.000 Polen flohen nach Afrika

„Ebenfalls unerwartet ist die Fluchtbewegung nach Afrika. Fast 20.000 Polen wurden 1942 in Flüchtlingslagern in Ost- und Südafrika untergebracht, wo einige von ihnen bis in die 1950er Jahre lebten. Die meisten von ihnen konnten nach Kriegsende nach Großbritannien emigrieren. Doch die sogenannten Hardcore-Fälle litten unter dem langen Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Akteuren – den Vertretern der Hilfswerke, den Außenministerien der aufnehmenden Länder und nicht zuletzt den sich herausbildenden Antagonisten im Kalten Krieg“, so Julia Devlin. Die beiden Artikel behandeln nicht nur die Arbeit der IRO außerhalb Europas, sondern veranschaulichen auch Migrationswege von Nord nach Süd.

Der englischsprachige Band setzt die Reihe der „Fundstücke“ fort. Er ist zum Preis von 9,90 € erhältlich und kann über die E-Mail-Adresse id@arolsen-archives.org sowie im Buchhandel bezogen werden. Eine digitale Version ist kostenlos verfügbar.

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