#prideuntold: Liddy Bacroff
Anlässlich der Pride Week 2020 veröffentlichte die KZ-Gedenkstätte Neuengamme das Projekt #prideuntold – einen Instagram-Takeover von Renée Adele Grothkopf und Tamara Loewenstein. Jeden Tag präsentierten sie in dem sozialen Netzwerk die Biographie einer Person, die auf Grund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität im Nationalsozialismus verfolgt wurde. Wir sind dankbar, die Biographie von Liddy Bacroff teilen zu dürfen.
„In unserem Projekt #prideuntold sind wir der Annahme entgegengetreten, die Verfolgung von Homosexualität durch die Nationalsozialist*innen habe sich auf homosexuelle Männer beschränkt. Es ging uns darum, den Diskurs über queere Geschichte im Nationalsozialismus zu erweitern. Der Begriff „queer“ wurde geschichtlich als Beleidigung verwendet. Doch mittlerweile wurde er sich angeeignet von Menschen, deren geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung außerhalb der Norm liegen. Für uns wurzelt Queerness in Aktivismus und in der Solidarität mit Unterdrückten und verfolgten Individuen. Wir orientieren uns an den Aktivisten von ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power), Gran Fury und STAR (Street Transvestite Action Revolutionaries).“
»Wir hoffen, dass ihr dabei seid, wenn wir Geschichten von Menschen erzählen, deren Aktivismus und Lebenserfahrungen uns inspirieren. Wir möchten daran erinnern, dass der erste Pride ein Aufstand war und dass niemand frei ist, solange nicht alle frei sind.«
Renée Adele Grothkopf und Tamara Loewenstein
Liddy Bacroff: Als homosexuell und trans verfolgt
Liddy Bacroff wurde 1908 in Ludwigshafen geboren und wuchs bei ihren Großeltern auf. Sie kam früh für ein Jahr in ein Erziehungsheim, da sie als „schwer erziehbar“ galt. Nachdem sie eine Lehre abbrach, arbeitete sie als Bürodienerin und Botin. In den 20er Jahren wurden über sie mehrere Strafen wegen Diebstahl und Hausfriedensbruch verhängt. 1929 wurde sie nach §175 zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt. Nach ihrer Freilassung verließ sie ihr Elternhaus und zog nach Hamburg.
1930 wurde sie erneut wegen Diebstahls inhaftiert und bis 1934 folgten mehrere Haftstrafen nach §175 und wegen ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterin. In Haft schrieb Bacroff Texte über ihr Leben als Sexarbeiterin und „Transvestit“, wie transgeschlechtliche Menschen damals genannt wurden. Sie trugen die Namen „Freiheit! (Die Tragödie einer homosexuellen Liebe)“ und „Ein Erlebnis als Transvestit. Das Abenteuer einer Nacht in der Transvestitenbar Adlon!“.
Im März 1936 wurde sie wegen Sexarbeit und Diebstahl angezeigt. Ihre Haftstrafen verbüßte sie unter anderem in der Polizei- und Strafvollzugsanstalt Fuhlsbüttel. Während der vielen polizeilichen Verhöre musste sie detailliert Auskunft über ihre Transgeschlechtlichkeit und Arbeit geben, woraufhin sie in den Berichten pathologisiert und als “abnorm” bezeichnet wurde. Die Polizei erließ einen Suchbefehl, und am 25. März wurde sie von einem Beobachter in der Bar Komet denunziert, der angab, „einen Mann in Frauenkleidung“ gesehen zu haben, der Kontakt zu einem anderen Mann aufnahm.
Zuchthaus, Sicherungsanstalt, Konzentrationslager
1938 stellte Bacroff einen Antrag auf „freiwillige Kastration“. Sie wurde von einem Gerichtsmediziner untersucht, der ihr bescheinigte “Sittenverderber” und “unverbesserlich” zu sein. Im August selben Jahres wurde sie erneut wegen Sexarbeit als “gefährlicher Gewohnheitsverbrecher” zu drei Jahren Zuchthaus mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Sie wurde ins Zuchthaus Bremen-Oslebshausen überstellt und 1941 in die Sicherungsanstalt Rendsburg. 1942 wurde sie in das KZ Mauthausen gebracht, wo sie 1943 ermordet wurde.
Fotocredit Titelbilder:
Staatsarchiv Hamburg, 741-4 Sammlungsbestand Fotoarchiv, Nr. P 54700.269 (Glasbildnegativ, Liddy Bacroff sitzend)
Staatsarchiv Hamburg, 741-4 Sammlungsbestand Fotoarchiv, Nr. P 54700.270 (Glasbildnegativ, Liddy Bacroff stehend mit gesenktem Kopf)
Ein Gastbeitrag von Renée Adele Grothkopf und Tamara Loewenstein, mit freundlicher Genehmigung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Weitere Biographien, die während des Projekts veröffentlicht wurden, sind unter #prideuntold auf Instagram zu finden.
Renée Adele Grothkopf (sie/keine Pronomen) hat Soziologie und Geschichte studiert und ist Organisator*in queerer Veranstaltungen in Hamburg. Sie ist queere Aktivist*in, Teil der queeren Szene und seit einigen Jahren der Gedenkstätte Neuengamme verbunden. Sie arbeitet zu psychoanalytischer und queerer Theorie, sowie zu (neo)-materialistischen Feminismen.
Tamara Loewenstein (she/her) ist Kuratorin, Produzentin und Kulturpädagogin aus San Francisco, die in Hamburg wohnt. Ihre Praxis verwebt Geschichte, Identität und politischen Aktivismus mit einem Fokus auf Trauma und Erinnerung. Loewenstein lehrt zu Post-Erinnerung und zum Holocaust durch die Linse von Künstler*innen zweiter und dritter Generation und betrachtet die Holocaust Erinnerungskultur aus einer kritischen und zukunftsorientierten Perspektive. Ihr aktuelles Projekt Die nächsten 1700 Jahre: Queer Jewish Futures präsentiert kritische Gespräche mit queeren und jüdischen Künstler*innen, Aktivist*innen, und Schriftsteller*innen aus Deutschland und der gesamten Diaspora – mit dem Ziel, jüdisches Empowerment zu verstärken.