Großvaters Geschichte: Wie Roland Plasson gegen die Nazis kämpfte

Audrey Plasson war erst zwei Jahre alt, als ihr Großvater Roland 1996 starb. Ihre Familie sprach selten über ihn, aber alle wussten, dass Roland im Zweiten Weltkrieg Mitglied der französischen Résistance gewesen war. Im Jahr 2022 fand Audrey ein Buch, das einige Details über Rolands Aktivitäten im Widerstand enthüllte. Sie wurde neugierig und begann, sein Schicksal zu recherchieren, was sie auch zu den Arolsen Archives führte. Heute ist Audrey überzeugt, dass Erinnerungsarbeit dabei helfen kann, die Herausforderungen des Lebens zu meistern.

Roland trat der Résistance im Juni 1944 bei, als er 16 Jahre alt war. Zu dieser Zeit arbeitete er als Zuschneider in einer örtlichen Bekleidungsfabrik und lebte noch bei seinen Eltern. Die Nationalsozialisten hatten Frankreich schon seit vier Jahren besetzt und die alliierten Streitkräfte waren gerade in der Normandie gelandet. Um die Alliierten bei der Befreiung Frankreichs zu unterstützen, beteiligte sich Roland vermutlich an Anschlägen auf die „Milice française“ (eine paramilitärische Truppe in Frankreich, die mit den Nazis kollaborierte) in seiner Heimatstadt Saint-Amand-Montrond.

Die Widerstandskämpfer versteckten sich auf dem Gelände des „Château de Mérignat“ mehr als 100 Kilometer südlich von Rolands Heimatstadt. Audrey nahm dieses Foto bei einer Recherche-Reise im Jahr 2023 auf.

 

„Surcouf“: Roland baute eine Hochburg der Résistance mit auf

Rolands Widerstandsgruppe „Surcouf“ gelang es, mehrere Militärstützpunkte in der Region (Département Creuse) zu erobern. Sie nahmen auch Geiseln und flohen vor den Nazis, um sich in den Wäldern und Dörfern im Süden des Départements zu verstecken. In den folgenden Wochen bekämpfte und sabotierte die Surcouf weiterhin Miliz-, SS- und Wehrmachtseinheiten und machte Creuse zu einer wahren Hochburg des Widerstands. Am 19. Juli 1944 geriet Roland jedoch zusammen mit etlichen seiner Kameraden in einen Hinterhalt. Einige von ihnen wurden getötet. Die Nazis und ihre Helfer verhafteten Roland und 60 weitere Kämpfer.

Im Jahr 2023 besuchte Audrey die Orte aus der Zeit ihres Großvaters im französischen Widerstand. Einige sind heute Gedenkorte. Dazu gehört das Mahnmal in dem Wald, in dem die Nazis Roland und seine Kameraden umzingelten. Audrey sah sogar seine Zelle in einem Gefängnisturm, wo er zuerst inhaftiert war.

Ein geheimnisvolles Buch über die Résistance

Audrey erfuhr von Surcouf und den Aktivitäten ihres Großvaters in der Gruppe, als sie in seinem Haus ein mysteriöses Buch fand. Sie war dabei, mit ihrer Familie das Haus auszuräumen, nachdem ihre Großmutter – Rolands Frau – im Jahr 2022 gestorben war. „Dieser Ort und die Dinge, die ich dort fand, waren die letzte Verbindung zu meinem Großvater“, erklärt Audrey. „Ich habe keine persönliche Erinnerung an ihn, weil ich noch so klein war, als er starb.“ Das Buch war in sehr buntes Geschenkpapier eingewickelt – wenn nicht sogar „getarnt“. Es wäre fast  im Papierkorb gelandet, aber Audrey hatte einen siebten Sinn: Sie schlug das Buch auf und fand einen detaillierten Bericht über die Aktivitäten der Surcouf in Creuse. Einer der Kameraden ihres Großvaters hatte es 1980 geschrieben. Er erwähnte auch Roland darin.

 

Roland sprach kaum über die Zeit der Verfolgung

Nach dieser Entdeckung machte Audrey sich auf die Suche. Sie wollte so viel wie möglich über die Aktivitäten ihres Großvaters im Widerstand und über seine Verfolgung erfahren. Audrey und ihre Familie wussten zwar, dass die Nazis Roland verhaftet und in deutsche Konzentrationslager deportiert hatten. „Wir hatten aber keine Details und mein Großvater wollte wohl nie wirklich darüber reden“, sagt Audrey. „Es gab Geschichten über seine Flucht aus einem Lager. Meinem Vater erzählte er einmal, dass er die Leichen von Mitgefangenen einsammeln und verbrennen musste. Aber ich wusste nicht genau, wie er es geschafft hatte zu überleben und unter welchen Umständen er nach Hause zurückkehren konnte.“

Roland mit Audrey an ihrem zweiten Geburtstag. Er starb kurze Zeit später.

 

Die Arolsen Archives lieferten Details über Rolands KZ-Haft

Audrey postete einen Aufruf über ihre Social-Media-Kanäle, weil sie nicht sicher war, wo sie mit der Suche beginnen sollte. Einige Historiker*innen und Lokalforscher*innen gaben ihr Tipps und verwiesen sie auf verschiedene Archive und Gedenkinitiativen. Sie fragte auch bei den Arolsen Archives an und erfuhr so von Rolands Weg durch verschiedene Lager. Der letzte Ort seiner Inhaftierung war Langenstein-Zwieberge, ein Außenlager des KZ Buchenwald. Dort musste Roland zusammen mit Tausenden anderen Häftlingen aus ganz Europa unter Tage arbeiten. Viele starben wegen der körperlichen Belastung und den harten Haftbedingungen. 

Die Häftlinge des Außenlagers mussten ein 13 Kilometer langes unterirdisches Stollensystem in einen Berg treiben. Es sollte der Rüstungsproduktion dienen. Heute befindet sich dort eine Gedenkstätte. Foto: Wikicommons / Sipalius

 

Verfolgungsgeschichten teilen hilft, Traumata zu bewältigen

Nach weiteren Recherchen erfuhr Audrey das mutmaßliche Schicksal ihres Großvaters in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs: Im April 1945 trieb die SS rund 3.000 der Häftlinge aus dem Lager auf Todesmärsche – mindestens 2.550 von ihnen starben dabei. Roland gelang die Flucht in einen Wald, wo deutsche Bauern ihn retteten. Dokumente aus Frankreich belegen, dass er am 13. Mai 1945 nach Paris zurückkehrte und einige Zeit später nach Bourges weiterreiste, wo seine Familie heute lebt. 1947 lernte er seine Frau Janine kennen und bekam mit ihr fünf Kinder. Roland erzählte ihr die Geschichte seiner Verfolgung, aber sie wollte nicht wirklich mit ihren Enkelkindern darüber sprechen.

Audrey teilt den Fortschritt ihrer Recherchen auf Instagram und plant, die Geschichte ihres Großvaters aufzuschreiben – vielleicht sogar für ein Buch. Sie findet es wichtig, das Schweigen zu brechen und die Schicksale der Verfolgung zu erzählen, weil Menschen wie ihr Großvater zu Lebzeiten oft keine Stimme dafür fanden:

»Indem ich die Verfolgung meines Großvaters anerkenne und darüber spreche, kann ich ungelöste Traumata verarbeiten. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich habe das Gefühl, dass ich ihm etwas schulde: Hätte er nicht überlebt, wäre ich nicht hier. Und könnte seine Geschichte nicht erzählen.«

Audrey Plasson, granddaughter of Roland Plasson
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