Am 18. August 1944 wurde der 21 jährige Rudy de Wijs im niederländischen Arnheim verhaftet und nach Neuengamme deportiert. Bereits im November starb er aufgrund der unmenschlichen Bedingungen im Arbeitslager. Unter den persönlichen Gegenständen, die der junge Mann bei sich trug als er verhaftet wurde, befand sich sein Notizbuch. Dieses Buch konnte der International Tracing Service (ITS) der Familie von Rudy im Oktober 2015 zurückgeben. Es gibt Einblicke in Rudys Leben, seine Wünsche und in seine Gedanken unmittelbar nach der Verhaftung.

Jahrzehntelang wusste die Familie von Rudy de Wijs nicht genau, was damals im August 1944 geschah. Bis zu ihrem Tod hatte seine Mutter vergeblich nach Hinweisen zu seinem Schicksal gesucht. Im Oktober 2015, 71 Jahre nach Rudys Verschwinden, erhielt sein Neffe Gerald einen überraschenden Anruf: Pauline Broekema, eine niederländische Journalistin des Sender NOS meldete sich mit ungeahnten Nachrichten bei ihm. Sie hatte unter den Effekten im kürzlich veröffentlichten Online-Archiv des ITS Bilder des Notizbuches und das darin eingeklebte Foto Rudys gesehen. Der Name des Eigentümers dieser im ITS verwahrten Effekte war nicht bekannt. Doch der Journalistin gelang es, anhand der abfotografierten persönlichen Notizen Rudys Namen herauszufinden.

„Wer ist dieser Junge?“

„Direkt nach der Veröffentlichung habe ich mir die Effekten im Online-Archiv angesehen und bin an Rudys Bild hängen geblieben“, berichtet Pauline Broekema. „Es hat mich nicht losgelassen, ich wollte unbedingt herausfinden, wer dieser Junge ist“. Der im Buch notierte Geburtstag von Rudys Vater brachte sie auf die richtige Spur. Denn neben dem vollständigen Geburtsdatum hatte Rudy auch den Geburtsort seines Vaters notiert – ein sehr kleiner niederländischer Ort, in dem am betreffenden Tag nur ein Kind geboren wurde. Über das Geburtenregister im regionalen Archiv fand sie den Namen des Vaters heraus und hatte damit den Schlüssel zu noch lebenden Familienmitgliedern in der Hand. Innerhalb weniger Tage fand sie Rudys Neffen Gerald t’Sas und rief ihn an. Er und seine Kinder sind die letzten direkten Verwandten.

Was uns das Notizbuch erzählt

Am 14. Oktober 2015 besuchte Gerald t‘Sas gemeinsam mit Pauline Broekema den ITS, um das Notizbuch entgegenzunehmen. Zum ersten Mal hielt er ein Foto seines Onkels in der Hand: „Mit dem Foto hat mein Onkel ein Gesicht bekommen. Mit den Notizen erhält er seine Identität zurück“. Rudys Notizbuch verrät viel über sein Leben: Er hörte Musik von Duke Ellington und Count Basie sowie Klavierkonzerte von Mozart und Beethoven. Er fotografierte gerne, lief Schlittschuh und schwärmte für ein Mädchen, Geri, an das er seine letzten Notizen richtete. In einem kleinen Kalender strich er die Tage ab – zum letzten Mal am 17. August 1944. Seine letzten Eintragungen stammen vom Tag der Verhaftung: „Für meine Mutter ist es am Schlimmsten. Ich selbst füge mich in mein Schicksal.“ Und: „Ich habe zu früh geglaubt, ein freier Vogel zu sein.“ Um nicht zur Zwangsarbeit verschleppt zu werden, hatte sich Rudy vor den Deutschen versteckt. Im August 1944 schien die Befreiung der Niederlande durch die Alliierten kurz bevorzustehen. Rudy ging zum Bahnhof von Arnheim, wo er vom Sicherheitsdienst (SD) der Nazis verhaftet wurde – er hatte zu früh auf die Befreiung gehofft.

Rudys Schicksal

Rudys Eltern sind nie über sein Verschwinden hinweggekommen, ihre Ehe zerbrach. Sie sprachen weder miteinander noch über ihren Sohn. Auch Fotos zeigten sie nicht: „Meine Großeltern waren wie erstarrt. Sie lebten ohne zu leben. Rudys Flügel und sein Radio standen bei ihnen im Haus, aber niemand durfte diese Gegenstände je berühren. Die Musik ist mit Rudy aus ihrem Haus verschwunden“.

Rudys Notizbuch ist die erste Effekte, deren Herkunft auf Grund der Veröffentlichung der Fotos im Online-Archiv geklärt werden konnte. „Für mich ist es nicht die erste, sondern die einzige“, sagte Gerald t’Sas bei seinem Besuch. Gemeinsam mit dem Notizbuch erhielt die Familie Kopien sämtlicher im ITS verwahrter Dokumente, die Auskunft über Rudys Schicksal geben. Aus ihnen geht hervor, dass Rudy über das Durchgangslager Amersfoort in das Konzentrationslager Neuengamme verschleppt wurde und dort am 7. November 1944 im „Außenkommando Husum“ starb. Durch die Dokumente weiß Gerald t‘Sas nun auch, wo Rudy begraben ist. „Es ist gut, Gewissheit über Rudys Schicksal zu haben. Aber vor allem bin ich froh, meinen Onkel über sein Buch ein bisschen kennenzulernen.“

Jetzt Spenden
Mehr erfahren