Russlands Krieg gegen die Erinnerung
Geschichtsrevisionismus, die Relativierung des Holocaust und Verschwörungstheorien sind fester Bestandteil der russischen Kriegspropaganda – seit Beginn des Angriffskriegs vor einem Jahr. Im Interview spricht Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, über die Verbreitung und Wirkung dieser Propaganda, mögliche Lösungsansätze und eine neue europäische Erinnerungskultur.
Welche Veränderungen bedeutet der Krieg in der Ukraine für die Erinnerungskultur?
Seit einem Jahr findet der Krieg mit all seinen schrecklichsten Folgen vor unseren Augen statt. Wir sehen die Zerstörung von Städten, sehen Leichen, wir hören von der Entführung und Verschleppung von Kindern, wir wissen von Mord und Vergewaltigung. Und wir sind aufgrund der geografischen Nähe und der familiären Bindungen zwischen der Ukraine und Deutschland Zeitzeug*innen von Flucht – mehr als eine Million Ukrainer*innen sind heute in Deutschland.
Diese gewaltige Erfahrung, die uns alle betrifft, beeinflusst unsere Betrachtung der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Wir stellen fest, dass eine bestimmte Sicht auf die Geschichte uns vielleicht dafür blind gemacht hat, welchen Gefahren die Ukraine schon seit 20 Jahren ausgesetzt war. Klar ist, diese Erfahrung wird auch unsere Erinnerungspolitik maßgeblich beeinflussen. Es ist wie eine zusätzliche Schicht, die hinzugefügt wird. Durch sie ist Erinnerungskultur neu zu verhandeln. Hier muss man hinzufügen, dass dies leider in den 1990er Jahren in der Folge der Kriege in Ex-Jugoslawien und des Genozids in Bosnien nicht erfolgt ist.
Verschwörungstheorien als russische Kriegspropaganda
Auf die angebliche „Entnazifizierung“ der Ukraine kommt Putin seit Beginn des Angriffskriegs immer wieder zurück. Wie hat sich dieses Narrativ während des ersten Kriegsjahres entwickelt?
Das russische Regime legitimiert seinen Krieg damit, dass in der Ukraine Nazis am Werk seien und man die Entnazifizierung der Ukraine anstrebe. Putin behauptet, die Ukraine verübe im Osten einen Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung. Dieses Narrativ wird permanent erweitert und bekräftigt, beispielsweise durch Aussagen im russischen Staatsfernsehen. Nach Zusage der deutschen Bundesregierung, Panzer an die Ukraine zu liefern, wurde Kanzler Olaf Scholz prompt mit Hitler verglichen.
»Die russische Regierung instrumentalisiert Geschichtspolitik als Waffe.«
Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives
Die russische Regierung bedient sich verschiedener Verschwörungstheorien, insbesondere antisemitischer. Welchen Einfluss hat sie damit auf die russische Bevölkerung, aber auch auf Menschen in anderen Ländern?
Das stimmt. Beispiele sind die Aussage des russischen Außenministers Sergei Lawrow „Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut“ in Bezug auf den ukrainischen Präsidenten. Damit bediente er die antisemitischen Verschwörungsnarrative, Juden seien selbst schuld am Holocaust gewesen.
Es kursieren auch in Deutschland – aber auch in Frankreich – die Theorien, dass der Krieg eine Antwort auf die Provokation der NATO sei, auf eine vermeintlich „Demütigung“ Russlands. Aber auch, dass Putin versuche, die Welt von einer Weltelite zu retten – hier werden natürlich die Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg und antisemitische Chiffren bedient. Besorgniserregend dabei ist, dass insbesondere junge Menschen über soziale Medien wie TikTok sehr leichten Zugang zu diesen Verschwörungstheorien haben. Umfragen zeigen ein konsistentes Bild, dass Generationen, die mit Social Media sozialisiert wurden, Verschwörungstheorien und revisionistischen Darstellungen wesentlich mehr Glauben schenken. Je größer die Follower*innenzahl, desto glaubhafter die Accounts – das ist oft die vorherrschende Meinung. Die Untersuchungen von CEMAS zeigen, dass zwischen April und November letzten Jahres die Anzahl der Leute, die glauben, Putin würde gegen eine globale Elite vorgehen, von 32 auf 44 Prozent gestiegen ist.
Geschichtspolitik als Waffe
Das bedeutet, Geschichtspolitik wird hier als Waffe eingesetzt?
Ja, ich würde ganz klar sagen, dass die russische Regierung Geschichtspolitik als Waffe instrumentalisiert. Wir sehen, wie sich der Blick auf die Vergangenheit im letzten Jahr stark verändert hat. Wir leben in digitalen Räumen, vor allem die jüngere Generation, und dies beeinflusst massiv, wie wir lernen und was wir für richtig oder falsch halten. Wir erleben überall eine Polarisierung der Gesellschaften, eine Erosion des Gefühls der Zusammengehörigkeit. Populistische Parteien und Regimes bedienen sich auf der Klaviatur von Antisemitismus, Rassismus, Xenophobie, bis zu Sexismus und Homophobie, um nationale Identitäten zu stärken. Sie nutzen Geschichtspolitik offen als Instrument der Spaltung und nicht der Integration. Geschichte wird neu geschrieben.
Was tun die Arolsen Archives gegen Geschichtsrevisionismus in Bezug auf die Ukraine?
Unsere Bemühungen fokussieren sich auf die Sicherstellung von Dokumenten in der Ukraine, damit sie für die Zukunft aufbewahrt und zugängig gemacht werden können. Viele Archive sind aufgrund von Kriegshandlungen beschädigt worden. Wir wissen auch von Plünderung und Vernichtung und wir können davon ausgehen, dass eine russische Besatzung mit der Vernichtung/Beschlagnahmung der Quellen einhergehen wird, die die offizielle Version des Kremls zur ukrainischen Geschichte widerlegen könnte.
In dieser Geschichte sind die Ukrainer*innen nicht die Opfer der brutalsten Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten, sondern die Kollaborateure; in dieser Geschichte sind Russen die Helden des Zweiten Weltkriegs und nicht die ukrainischen Soldaten. Darüber hinaus wissen wir, dass die Vernichtung von Infrastruktur, die Aufbewahrung von Archivmaterial unter akzeptablen Klimabedingungen unmöglich macht. Papier aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist besonders fragil, weil es von schlechter Qualität ist. Es ist damit zu rechnen, dass Bestände, die nicht digitalisiert wurden, für immer verloren sind. Daher ist unsere Priorität, Unterstützung zu leisten – bei der Digitalisierung und Sicherstellung von Kulturgut, wie zum Beispiel für das Staatarchiv Winnyzja zur Digitalisierung von 500.000 Personalakten von befreiten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter*innen.
„Die Ukraine digital bereisen“
Wie können junge Menschen besser für Verschwörungstheorien und Kriegspropanda sensibilisiert werden?
Ich denke, wir brauchen eine ganzheitliche Perspektive der Vermittlung, denn historische-politische Bildung hat viele Facetten: von Wissen erwerben und forschen über die Vergangenheit, aber auch über eigene Vorurteile und Stereotypen nachdenken. Ich habe häufig bemerkt, dass zu viel erwartet wird – als ob ein Gedenkstättenbesuch ein Heilmittel gegen Antisemitismus sei. Bildungsarbeit ist wichtig, reicht aber nicht aus. Erinnerungskultur braucht Wissen und das ist eine gewaltige Herausforderung. Das allgemeine Wissen über den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus schwindet in allen europäischen Ländern. Wissen muss in einer Form bereitgestellt werden, die interessant ist.
Eine Herangehensweise ist dabei, das Interesse an den authentischen Quellen zu nutzen, wie zum Beispiel bei unserem Projekt #everynamecounts. Wir brauchen mehr Angebote zum Mitmachen, die junge Menschen zu aktiven Teilnehmer*innen werden lassen, die selbst die Gegenwart und die Zukunft sichtbar beeinflussen. So rückt das Thema Verantwortung ins Zentrum der Vermittlung.
Diskriminierung und Hass muss verstanden und viel ernster genommen werden – es fängt immer mit Worten an, und da muss früh angesetzt werden. Wichtig ist auch, die Opfer zu begleiten, damit sie Vertrauen haben, dass sie Übergriffe usw. melden können, und dass Hasskriminalität auch wirklich als Straftat verstanden und verfolgt wird.
Für eine europäische Erinnerungskultur
Dazu kommt, dass moderne Erinnerungskultur Bezüge zu den Lebensfragen der Jugendlichen, aber auch anderer Altersgruppen herstellt – nur dann ist eine Selbstreflektion der eigenen Vorurteile möglich. Dabei ist es wichtig, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen und ihre Gefahren gekonnt zu bekämpfen. Junge Leute sollen von zu Hause aus die Möglichkeit haben, europaweit Zugang zu Quellen zu haben, um transnationale Verflechtungen zu verstehen. Sie könnten so forschend transnational unterwegs sein und eine ‚europäische Erinnerungskultur‘ entstehen lassen. Gedenkstättenbesuche bleiben wichtig, aber in Kombination mit digitalen Reisen, um an die Orte zu kommen, die keine Gedenkstätten haben oder für Schüler*innen nicht bereist werden können, wie aktuell die Ukraine.