Trauriges Osterfest: Briefe aus der Ukraine
Unsere Archiv-Mitarbeiterin Hanna Lehun hat in einer Briefe-Sammlung aus den 1940er Jahren einige Oster-Postkarten gefunden, die ukrainische NS-Zwangsarbeiter*innen an ihre Familien zu Hause verschickten. Hanna stammt selbst aus der Ukraine. 2022 haben wir mit ihr ein Interview geführt und sie 2023 nach einem Update gefragt.
Wie sieht Ostern für die Ukrainer*innen 2023 aus?
Es war ein sehr schweres Jahr für alle Ukrainer*innen. Jeder ist betroffen, jeder kennt jemanden, der im letzten Jahr gestorben ist. Normalerweise gehen wir in der Osterwoche auf den Friedhof, um den Toten zu gedenken. Aber dieses Jahr können Millionen Menschen nicht in ihre Heimat und viele der Toten in der Ukraine können nicht begraben werden oder wurden in Massengräbern verscharrt. Überall in der Ukraine sind die Friedhöfe mit frischen Gräbern mit ukrainischen Flaggen gefüllt – Gräber von gefallenen Soldat*innen, die gegen die russische Invasion gekämpft haben und dank derer das Leben in den nicht besetzten Teilen der Ukraine weitergeht.
Update: Archive in der Ukraine 2023
Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie schnell wichtiges Archivmaterial verloren gehen kann. Millionen von Dokumenten aus der Region Cherson wurden gestohlen und sind nicht auffindbar. Für immer weg sind beispielsweise Dokumente des Archivs des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU). Es beinhaltete Informationen zu Personen, die während der NS-Zeit und der Zeit der Sowjetunion staatlicher Unterdrückung ausgesetzt waren. Die russische Armee raubte außerdem regionale Archive aus. In den aktuell wieder befreiten Gebieten verminte sie viele Archive, sodass die Mitarbeitenden vor Ort nicht mehr an die Dokumente herankommen und sie retten können.
Die Digitalisierung der Dokumente ist wichtiger denn je. Mit dem Staatsarchiv der Region Kirowohrad schlossen die Arolsen Archives 2022 einen Vertrag zur Zusammenarbeit in der Digitalisierung. Im Rahmen dessen schickten wir unter anderem Scanner nach Vinnytsia, Kropyvnytskyi, Ternopil und nach Kyiv.
Um welche Archivbestände kümmerst du dich hauptsächlich bei den Arolsen Archives?
Ich arbeite mit der Kriegszeitkartei. Das sind Millionen Dokumente, die nach dem Krieg über die ausländischen Zwangsarbeiter*innen in Deutschland angelegt wurden. Viele der Menschen kamen aus der ehemaligen Sowjetunion – die sogenannten „Ostarbeiter“. Im Team „Archivische Erschließung“ ordnen und verzeichnen wir das Archivgut und sammeln weitere Dokumente über die NS-Verfolgten. Dazu schließen wir auch Kooperationen mit anderen Archiven, die interessante Bestände haben.
Hanna Lehun
Warum gibt es diese Sammlungen von Briefen und Postkarten der ukrainischen Zwangsarbeiter*innen?
Sie sind Teil einer langen, tragischen Verfolgungsgeschichte von Menschen aus der Sowjetunion, die während des Zweiten Weltkriegs im Ausland gewesen waren: Alle Rückkehrer wurden in ihrer Heimat systematisch verfolgt – sogar diejenigen, die von den Nazis als Zwangsarbeiter*innen nach Deutschland verschleppt worden waren. Die sowjetische Regierung verdächtigte sie als Verräter, legte sogenannte Filtrationsakten über sie an und sammelte darin alle Dokumente über ihre Zeit im Ausland. Irgendwie sind auch die Briefe in dieses System gelangt – wie genau, ist unklar. Die Zwangsarbeiter*innen hatten sie jedenfalls aus Deutschland an ihre Familien in der Heimat geschickt, um in Kontakt zu bleiben.
Briefe aus Kyjiw und Winnyzja
Sind die Briefe jemals bei den Familien angekommen? Wo liegen sie heute?
Nein, die allermeisten wurden sicherlich schon im Postversand abgefangen. Man kann diese Dokumente heute in vielen Archiven auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion finden. Ich habe vor allem mit der Sammlung aus dem Staatsarchiv Winnyzja gearbeitet, auch vor Ort. Von einem Teil der Briefe habe ich bereits Scans angefertigt. Diese digitalen Dokumente kann man sich jetzt im Online-Archiv der Arolsen Archives ansehen. Eine meiner Kolleginnen hat außerdem eine Sammlung vom Staatlichen Archiv Kyjiw recherchiert, die auch schon im Online-Archiv zur Verfügung steht.
Zu wenige Dokumente sind digitalisiert
Sind denn die Bestände zur NS-Zeit und zum Zweiten Weltkrieg in den ukrainischen Archiven generell schon gut digitalisiert?
Leider nicht. Es gab in der Ukraine lange keine Strategie zur Digitalisierung und deshalb auch keine Finanzierung und keine Technik für die Archive. Das hat sich erst in den letzten fünf Jahren durch eine Digitalisierungs-Initiative der Regierung geändert. In dieser Zeit sind einige Projekte entstanden, zum Beispiel eine Scansharing-Plattform, auf der Historiker alle Scans teilen, die sie bei ihrer Arbeit in den Archiven anfertigen. Aber es ist insgesamt noch viel zu wenig. Jetzt, wo manche der Archive durch den russischen Angriffskrieg in Gefahr sind, wird das zum Problem. Mein Vater leitet das Staatliche Archiv Winnyzja. Obwohl es in der Region noch relativ ruhig ist, muss er jetzt unter erschwerten Bedingungen Vorkehrungen treffen. Er hat mir vor kurzem geschrieben:
»Uns helfen jetzt britische Kollegen dabei, Dokumenten-Scans in einer Cloud zu sichern. Aber wir haben Probleme mit den Geräten. Ein Scanner ist direkt vor der Invasion kaputtgegangen und jetzt können wir ihn nicht mehr reparieren. Zwei andere, die Leihgaben waren, mussten wir vor Monaten zurückgeben. Das verlangsamt unsere Digitalisierung sehr. Zudem sind bereits einige unserer Mitarbeiterinnen ins Ausland geflüchtet.«
Yuriy Legun, Leiter Staatsarchiv der Region Winnyzja, Ukraine
Archive in der Ukraine von Bomben getroffen
Was hast du von den Historiker*innen und anderen Kolleg*innen in den umkämpften Gebieten gehört?
Es ist alles sehr unübersichtlich. Mein Kollege Yuriy Olijnyk leitet das Staatsarchiv der Region Sumy nahe der russischen Grenze. Er schrieb mir zwar, dass aus seinen Sammlungen schon einiges digitalisiert ist und dass die Archivgebäude bisher noch nicht beschädigt wurden. Aber er macht sich Sorgen um die zahlreichen Privatsammlungen, Firmen- und Verwaltungsarchive, die jetzt in Gefahr sind.
Gibt es Sammlungen, die bereits zerstört sind?
Ja, leider. Der amerikanische Historiker Gregory Aimaro-Parmut recherchiert seit Jahren in einem großen Archiv des SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine) in Chernihiv über die Besatzung der Ukraine durch die Nazis. Er hatte noch einiges vor mit den Dokumenten und wollte noch viel mehr zu dem Thema publizieren. Aber das SBU-Gebäude wurde schon am zweiten Tag des Krieges ausgebombt. Gregory schrieb mir vor einigen Wochen:
»Ich habe vor drei Tagen herausgefunden, dass fast alles zerstört ist. Als Historiker-Kollegin wirst du verstehen, was dieser Verlust für eine unerträgliche Tragödie ist. Meine Kollegin Lena und ich haben zwar über 1000 Akten in Sicherheit gebracht, aber das ist ja ein Tropfen auf den heißen Stein. Weil unser Fokus auf der Nazi-Besatzung lag, konnten wir auch nur sehr wenige Dokumente über die Repressionen unter Stalin retten.«
Gregory Aimaro-Parmut, Historiker
Historiker*innen aus der Ukraine geflüchtet
Wie geht es jetzt weiter mit den Archiven in der Ukraine? Siehst du Möglichkeiten, noch mit ihnen zu arbeiten oder sie zu unterstützen?
Eigentlich war für dieses Jahr viel geplant, denn vor genau 80 Jahren verschleppten die Nationalsozialisten die ersten Zwangsarbeiter*innen aus der Ukraine nach Deutschland. Wir wollten mit den ukrainischen Historiker*innen den e-Guide und die Crowdsourcing-Aktion #everynamecounts rund um die Geschichten von Zwangsarbeiter*innen aus der Ukraine erweitern. Außerdem waren Workshops und Ausstellungen vorbereitet. Das ist jetzt alles abgesagt. Einige Kolleg*innen sind geflüchtet. Von manchen habe ich noch gar nichts gehört. Ich kann nur hoffen, dass es ihnen gut geht. Auf jeden Fall wollen wir jetzt von hier aus versuchen, die Archive beim Sichern ihrer Dokumente so gut es geht zu unterstützen.
Du hast kurz vor Ostern die Briefe-Sammlung der Zwangsarbeiter*innen nach Ostergrüßen durchsucht. Was hast du gefunden?
Ostern wird in der Ukraine nach dem orthodoxen Kalender gefeiert und unterscheidet sich von den deutschen Terminen. Deshalb hatten die ukrainischen Zwangsarbeiter*innen keinen freien Tag. Es ist aber in der Ukraine ein sehr wichtiges Fest und ein Heiligentag, an dem man nicht arbeiten soll. Darum geht es in vielen der Nachrichten. Die Menschen schreiben, dass sie die Feiertage nicht genießen können oder dürfen, dass sie traurig sind und die Heimat vermissen. Oder sie beruhigen ihre Familien. Vieles erinnerte mich an die Nachrichten, die ich jetzt von meinen Freund*innen, Kolleg*innen und der Familie erhalte: „Ich bin noch am Leben und einigermaßen gesund.“ Für mich ist das jetzt nicht mehr nur Geschichte, sondern alltägliche Realität.
Ukrainer*innen steht ein bitteres Osterfest bevor
Wie wird denn Ostern in der Ukraine normalerweise gefeiert?
Es ist ein sehr großes und schönes Fest, bei dem man alle Verwandten trifft. Auch nichtreligiöse Menschen feiern in der Regel mit, weil es einfach Spaß macht, lecker und fröhlich ist. Wer in die Kirche geht, versammelt sich schon vor Sonnenaufgang rund um das Gebäude. Das ist eine ganz feierliche Stimmung mit romantischer Kerzen- und Laternenbeleuchtung und Gesang. Alle anderen treffen sich später mit der Familie. Es wird viel gegessen, zum Beispiel Paska, das traditionelle Osterbrot. Etwa eine Woche nach Ostern besucht man die Friedhöfe, trifft dort wieder auf die Familie, erinnert sich an die verstorbenen Verwandten und knüpft an die eigene Familiengeschichte an. Dieses Jahr wird bestimmt alles anders. Man wird wohl irgendwie feiern, aber bestimmt nicht auf die übliche fröhliche Art und Weise. Ich denke, es wird ein sehr bitteres Ostern werden.