Unter dem Namen Nora Norelli trat Selma Grünewald vor 1933 öffentlich auf und machte auf die Gefahren durch illegale Abtreibungen aufmerksam. Ihre in den Arolsen Archives vorliegende Gestapo-Akte zeichnet das Bild einer starken, engagierten und unabhängigen Frau.

Selma Grünewald wurde 1899 in Kobern bei Koblenz geboren. Ihr Vater Samuel Grünewald war Kaufmann und lange Jahre Vorsteher der dortigen jüdischen Gemeinde. Im Anschluss an ihre Schulzeit absolvierte Selma Grünewald eine Ausbildung in der Krankenpflege. Sie arbeitete in Köln bei einem Arzt und wurde mit 25 Jahren wegen „Beihilfe zur Abtreibung“ nach §218 zu einer 6-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt.

In der Zeit der „Weimarer Republik“ regte sich Widerstand gegen dieses Gesetz, vor allem weil in Arbeiterfamilien eine große Zahl von Kindern wirtschaftliches Elend und eine übergroße Belastung der Frauen bedeutete. Die Zahl der Abtreibungen war hoch – wurden sie von Kurpfuschern durchgeführt, riskierten die Frauen nicht nur eine Verurteilung, sondern auch ihr Leben.

 

Aufklärungsarbeit als Nora Norelli

Vermutlich nach ihrer Gefängnisstrafe begann Selma damit, öffentlich aufzutreten und sich für bessere Aufklärung einzusetzen. In den protokollierten Vernehmungen durch die Gestapo sagte sie aus, dass sie bis 1933 unter dem Namen Nora Norelli als Dramaturgin beim Film gearbeitet und Kinofilme mit wissenschaftlichen Vorträgen begleitet habe. Sie nannte u.a. den Film „Frauennot – Frauenglück“ von 1929. Die Regie führte Eduard Tissé – die künstlerische Leitung hatte der bekannte sowjetische Regisseur Sergei Michailowitsch Eisenstein. Es war einer der ersten Filme, der ungewollte Schwangerschaften und das Leid durch illegale Schwangerschaftsabbrüche thematisierte.

 

Viele starben an den Folgen

Das Team um Regisseur Sergei Eisenstein (2.v.R.) und Eduard Tisse (links) zeigte im Film „Frauennot – Frauenglück“ von 1929 unter anderem die Schicksale von drei Frauen, die durch eine Schwangerschaft in Not geraten. Viele Frauen starben zu dieser Zeit an den Folgen einer illegalen Abtreibung. Die Filmvorführungen und Begleitvorträge, an denen auch Selma Grünewald beteiligt war, sollten aufklären und informieren.

 

Die filmische Darstellung von Operationen und einer Geburt sowie die vermittelten Botschaften sorgten für einen Skandal. Die Aufführung des Films wurde teils verboten, teils nur in Begleitung eines erklärenden Vortrags erlaubt. Der Gestapo-Akte kann man entnehmen, dass Selma Grünewald in vielen deutschen Städten als Dr. Nora Norelli diese begleitenden Vorträge hielt.

 

Ausschnitt aus einem Verhör von Selma Grünwald durch die Gestapo Düsseldorf am 29. Januar 1940. 

 

Enteignung, Denunziation und Verhaftung

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderte sich alles für die damals 34-jährige Jüdin. Ihr Vater starb 1933, ihr Bruder Julius floh wenige Jahre später aus Deutschland. Selma kümmerte sich um ihre Mutter. Beide waren aufgrund der Enteignung durch das NS-Regime mittellos. Als die Gestapo 1938 ihre Reisepässe einzog, gab es keine Hoffnung mehr auf Emigration. Zwischen 1935 und 1940 dokumentieren Einträge in Selma Grünewalds Gestapo-Akte, dass sie mehrfach denunziert wurde.

Im Januar 1940 erfolgte dann die Verhaftung durch die Düsseldorfer Gestapo unter dem Vorwurf der „Rassenschande“. Im Rahmen der 1935 durch die Nationalsozialisten verabschiedeten „Nürnberger Gesetze“ war Jüdinnen der Geschlechtsverkehr mit „Nichtjuden“ verboten. In ihrer unter Aufsicht der NS-Behörden verfassten Aussage bestritt Selma Grünewald den Vorwurf mehrmals entschieden.

Das Verfahren gegen den mitbeschuldigten Wirt und späteren Soldaten Rudolf Kirschner wurde fallengelassen, da er nicht gewusst habe, dass sie Jüdin sei. Für Selma Grünewald hingegen ordnete die Gestapo Düsseldorf die Einweisung in das Konzentrationslager Ravensbrück an: „Die Jüdin Grünewald gilt als überführt im Jahre 1937 mit dem Gastwirt Rudolf Kirschner (…) rassenschänderischen Verkehr getrieben zu haben.“ Auch ihre Tätigkeit vor 1933 findet sich in der Begründung ihrer Verurteilung wieder: „(…) Ferner ließ sie sich Post unter der Anschrift „Frau Dr. Norelli“ übersenden. Unter diesem Namen hat die Grünewald in der Systemzeit Sexualvorträge bei Filmvorführungen in Nachtvorstellungen gehalten.“ Zusammenfassend urteilte die zuständige Gestapo: „Bei der Jüdin Grünewald handelt es sich um eine übelbeleumundete Person, die u.a. wegen Abtreibung vorbestraft ist. Die Grünewald soll einem Konzentrationslager zugeführt werden.“

In „Schutzhaft“ ermordet

Die Gestapo verlängerte die „Schutzhaft“ von Selma Grünewald wiederholt ohne Angabe von Gründen, zuletzt im März 1942. Am 15.03.1942 adressierte der Lagerkommandant des Konzentrationslagers ein Schreiben an die Staatspolizeistelle Düsseldorf. „Ableben der Schutzhaftgefangenen Selma (Sara) Grünewald.“

Selma Grünewald wurde in der Tötungsanstalt Bernburg durch die Nationalsozialisten ermordet. Unter dem Decknamen „Sonderbehandlung 14 f 13“ starben in der dortigen Gaskammer an die 5000 nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge aus verschiedenen Konzentrationslagern. In ihrer Gestapo-Akte ist als „offizielle Todesursache“ „akute gelbe Leberatrophie“ angegeben.

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