Im Juni 2021 beschloss der Bundestag eine weitreichende Änderung des Einwanderungsgesetzes: Zahlreiche Nachkommen von NS-Verfolgten haben jetzt erstmals einen gesetzlichen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Der britisch-deutsche Historiker Dr. Nicholas Courtman gehört selbst zu den Betroffenen und beriet den Bundestag als Sachverständiger. Er erklärte uns, was das Gesetz für ihn bedeutet, wer die Staatsbürgerschaft beantragen kann und wie man Nachweise erbringt. Hier können auch die Dokumente der Arolsen Archives helfen.

„Diese neuen Einbürgerungsregelungen könnten Hunderttausende Menschen betreffen. Selbst wenn nur wenige davon Gebrauch machen, weil sie keinen Bezug zu Deutschland haben: Es ist ein wichtiger symbolischer Akt der Wiedergutmachung“, sagt Nicholas Courtman. Der 30-jährige Germanist und Historiker wurde in England geboren. Er lebt und arbeitet seit 12 Jahren abwechselnd dort und in Berlin und forscht zu Migration und Staatsangehörigkeit. Seine jüdische Großmutter war Deutsche und floh vor dem Nazi-Regime nach England.

USA 1938: Eine jüdische Familie aus Deutschland bei ihrer Ankunft in New York.
© Bundesarchiv

Im September 1939 wurde Nicholas‘ Großmutter die deutsche Staatsbürgerschaft infolge des „Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ vom 14. Juli 1933 aberkannt. Neben den geflohenen Jüdinnen und Juden galt es für politische Flüchtlinge, emigrierte oppositionelle Kulturschaffende und die vor 1933 eingebürgerten „Ostjuden“. Im November 1941 legte die  „11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“  fest, dass Emigrant*innen automatisch ausgebürgert werden. Das betraf dann auch alle deportierten Jüdinnen und Juden – ein praktischer Verwaltungsakt, der den Nationalsozialisten ermöglichte, zurückgelassenen Besitz einzuziehen. 

Leichtere Einbürgerung für Nachkommen

Laut Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes konnten prinzipiell alle auf diese Weise ausgebürgerten Menschen, sofern sie die Verfolgung überlebt hatten, bereits seit 1949 die deutsche Staatsbürgerschaft wiedererlangen. Das galt eingeschränkt auch für ihre Nachfahren. In der Praxis waren diese Einbürgerungen aber oft schwierig und langwierig, zudem fielen zahlreiche Verfolgte nicht unter die Regelungen. Der neue § 15 des Staatsangehörigkeitsgesetzes erleichtert nun die Einbürgerung für NS-Verfolgte insgesamt. Er erfasst zudem neue Gruppen, die vorher noch keine Staatsbürgerschaft beantragen konnten, darunter:

  • Nachfahren von ehemaligen deutschen Staatsbürgern, die ihre Staatsbürgerschaft bereits vor dem Zeitpunkt einer etwaigen Zwangsausbürgerung verloren haben – z. B. durch den Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit
  • Nachfahren der rassisch diskriminierten deutschen Minderheiten in den besetzten Ostgebieten, die von nationalsozialistischen Sammeleinbürgerungen ausgeschlossen waren – z.B. deutschsprachige Jüdinnen und Juden aus dem Sudetenland oder der Bukowina
  • Nachfahren von rassistisch, religiös oder politisch Verfolgten, die vor 1933 ihren Wohnsitz im Deutschen Reich, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hatten – wie z. B. viele in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit

Wo gibt es Nachweise?

Die Nachkommen müssen für eine Einbürgerung nun nachweisen, dass ihre Vorfahren zwischen 1933 und 1945 in Deutschland verfolgt wurden oder zu Gruppen gehörten, die verfolgt wurden. Nicholas Courtman hat einige Menschen bei ihrer Einbürgerung unterstützt und weiß, dass es oft schwierig ist, diese Nachweise zu erbringen – zum Beispiel, weil die Nationalsozialisten gezielt Einträge von jüdischen Bürgern in den Melderegistern zerstörten. „Zudem beherrschen viele Nachkommen die deutsche Sprache nicht und haben Schwierigkeiten, sich durch den deutschen Archiv-Dschungel zu kämpfen.“

5.000 neue Anträge erwartet die Bundesregierung pro Jahr
10.000 Verfolgte oder Nachfahren haben seit 2017 die Staatsbürgerschaft beantragt
4.000 Anträge wurden seit 2017 abgelehnt

Belege bei den Arolsen Archives

In unserem Archiv finden sich zahlreiche Unterlagen zur Verfolgung von politischen Gegner*innen, Jüdinnen und Juden und anderen Gruppen. Oft sind darin Aufenthaltsorte und Staatsbürgerschaften dokumentiert. Wichtige Belege für Einbürgerungsanträge können auch unsere Dokumente zur Registrierung der befreiten Überlebenden durch die Alliierten und die mehr als 2,3 Millionen Korrespondenzakten zur Suche und Dokumentation des Schicksals einzelner NS-Verfolgter enthalten.

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Nicht jeder will die Staatsbürgerschaft

Nicholas Courtman hat schon Anfang 2020 seine deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten – nach einem Erlass vom Bundesministerium des Innern vom November 2019, der Nachfahren die Einbürgerung erleichtern sollte. Auch seine Schwester und sein Vater haben jetzt den deutschen Pass. Die Großmutter ist 2010 gestorben. Sie hätte sich sicherlich für ihn gefreut, meint Nicholas – aber für sich selbst hätte sie den Antrag wohl nie gestellt: „Meine Großtante hat mir kürzlich erzählt, dass ihre Mutter und meine Großmutter sich immer zum Jahrestag ihrer Ausbürgerung getroffen haben, um darauf anzustoßen. Mit Deutschland wollten sie nichts mehr zu tun haben.“

»Es ist ein großer Vertrauensbeweis für Deutschland, dass heute wieder vermehrt NS-Verfolgte und deren Kinder oder Enkel die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen möchten. Dem kommt Deutschland mit der gesetzlichen Neuregelung nun entgegen.«

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, zum Gesetzesentwurf
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