Am 4. November wurden im Rahmen der Ausstellungseröffnung von #StolenMemory in Białystok vier Familien von ehemaligen KZ-Häftlingen die persönlichen Gegenstände ihrer Verwandten übergeben. Die Zeremonie fand in der Podlachischen Oper und Philharmonie – Europäisches Zentrum der Kunst statt.

Vier Fotos, vier Opfer der NS-Verfolgung: Janina Kacała, Zofia Bieniewska, Henryk Kowalczyk und Piotr Błaszczyk. Vor ihren Porträts lagen ihre Gegenstände, die sie bei sich hatten, als sie in die Konzentrationslager deportiert wurden: ein Rosenkranz, ein Bild, ein Ehering und eine Taschenuhr. Der Präsident des Instituts für Nationales Gedenken (IPN), Dr. Karol Nawrocki, betonte, dass diese persönlichen Gegenstände mit Lebensgeschichten gefüllt seien.

„Wir möchten diese Biografien erzählen, ihnen Gehör verschaffen und uns an sie erinnern. Wir wollen die Lücken in den Familiengeschichten füllen“, sagte Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives und Initiatorin der Kampagne #StolenMemory.

 

Floriane Azoulay, Dorota Bartoszewicz und Karol Nawrocki
Die Fotos und die Erinnerungsstücke

Erinnerungsstücke für vier Familien

Zum ersten Mal in der Geschichte der #StolenMemory Kampagne konnten wir vier Familien gleichzeitig die persönlichen Gegenstände ihrer Angehörigen zurückgeben. Die Erinnerungsstücke bekamen die Angehörigen von Henryk Kowalczyk, Zofia Bieniewska, Janina Kacała und Piotr Błaszczyk.

Die Familien fanden Freiwillige des Vereins „Ocalić od zapomnienia“, die sich bei der Suche nach Angehörigen im Rahmen von #StolenMemory engagieren.

 

Floriane Azoulay wies ebenfalls auf die Besonderheit hin, mehrere Familien gleichzeitig zu treffen.  Sie ging auf die Aufgaben sowie die Geschichte der Gegenstände in den Arolsen Archives ein und betonte, wie zentral die Freiwilligen für die konkrete Suche sind.

„Ihre Arbeit ist essentiell und prägt die Art und Weise, wie wir als Gesellschaften mit der Vergangenheit umgehen und die Zukunft für die nächsten Generationen gestalten“, erklärte sie.

IPN-Präsident Dr. Karol Nawrocki nahm in seiner Rede einen direkten Bezug auf den Namen der Kampagne: #StolenMemory. „Erinnerung kann nicht gestohlen werden, Erinnerung kann nicht zerstört werden“, sagte er. Er betonte auch die Wichtigkeit, sich an die Schrecken des 20. Jahrhunderts und die Erfahrungen des polnischen Volkes zu erinnern. Er dankte dem Institut für Nationales Gedenken und den Arolsen Archives für die Zusammenarbeit in diesem Bereich.

 

»Wir wollen deutlich machen, dass der Aufarbeitungsprozess der NS-Verbrechen in Deutschland noch nicht abgeschlossen ist. Wir bleiben dran und wollen helfen, die Lücken in vielen Familiengeschichten zu schließen. Oft beginnen die Familien erst nach der Rückgabe der Gegenstände damit, über die schmerzhaften Erfahrungen ihrer Angehörigen während der NS-Zeit zu sprechen.«

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives

 

Henryk hatte ein Foto bei sich

Agnieszka Bocheńska, die Enkelin von Henryk Kowalczyk, zeigte uns die Erinnerungsstücke ihres Großvaters. Sie breitete Fotos und persönlichen Gegenstände auf dem Tisch aus. Darunter auch eine Armbanduhr, eine Kette und ein Ehering, die die Familie bereits 1995 erhalten hatte. Das Foto, das ihr Großvater im Lager bei sich hatte, hat erst jetzt seinen Weg zu ihr zurückgefunden.

„Die Emotionen sind so vielfältig. Es ist schwierig, sie mit einem Wort zu beschreiben – einerseits ist es Freude, andererseits Traurigkeit, dass er nicht überlebt hat, nicht zurückgekommen ist. Denn er hat eigentlich drei Lager überlebt, den Krieg überlebt, ist aber nicht zu uns zurückgekommen“, sagte Agnieszka Bocheńska, die mit ihrem Bruder Krzysztof zur Zeremonie kam.

Henryk Kowalczyk arbeitete bei Kriegsausbruch im Gefängnis in Pawiak. Von Anfang an half er den verhafteten Pol*innen, indem er ihnen Lebensmittel, Kleidung und Medikamente zusteckte. Im August 1940 wurde er selbst verhaftet und in Pawiak inhaftiert, von wo aus ihn die Nationalsozialisten nach Auschwitz überstellten. Im selben Transport befand sich der spätere Organisator der Untergrundbewegung im Konzentrationslager Auschwitz, Witold Pilecki. In den Folgejahren arbeitete Henryk für Pilecki in den Strukturen des Lageruntergrunds.

 

Nachlass von Henryk Kowalczyk aus dem Arolser Archiv und andere Familienerbstücke seines Großvaters

 

Im März 1943 verschleppten ihn die Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Neuengamme. Im Zuge der Räumung des Lagers im April 1945 wurde er auf dem Schiff Cap Arcona eingepfercht, das die Alliierten später in der Lübecker Bucht bombardierten. Henryk Kowalczyk starb am 3. Mai 1945.

Zusammen mit dem Foto erhielt die Familie auch Informationen über die Grabstelle des Großvaters. Henryks Nachkommen waren nach der Befreiung zum ehemaligen Lager Neuengamme gefahren und hatten seinen letzten Ruheort gesucht. Informationen über den Vater bekam die Familie jedoch nicht, sodass sie in einem symbolischen Akt Abschied nahmen und von einem Schiff aus Blumen ins Meer warfen. Da die Familie nun weiß, wo Henryk begraben wurde, konnten die Enkelkinder Agnieszka und Krzysztof die Grabstätte ihres Großvaters besuchen. Sie nahmen etwas polnische Erde mit und zündeten eine Kerze an.

 

 

Oma sprach nicht über den Krieg

„Erst in diesem Jahr habe ich herausgefunden, dass meine Großmutter etwas aus dieser Zeit hinterlassen hat“, erzählt uns Helena Szymańska, Enkelin von Janina Kacała, kurz nachdem sie den goldenen Ehering erhielt. Die Suche fand hauptsächlich in den sozialen Medien statt. Helenas Freunde sahen den Suchaufruf nach Janinas Familie Internet und informierten sie darüber.

Als wir sie zu ihrer Großmutter befragten, erinnerte sie sich an ihre ruhige Art. Sie hatte nie über den Krieg und ihren Aufenthalt im Lager gesprochen, vermied das Thema grundsätzlich.

Im Juni 1944 wurde Janina Kacała als politische Gefangene in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Danach verschleppten die Nationalsozialisten sie in ein Außenlager des KZ Neuengamme nach Watenstedt und Hannover und später nach Bergen-Belsen. Nach dem Krieg kehrte sie nach Polen zurück. Ihre drei Brüder starben während des Krieges und ihre Schwester wurde nach Sibirien deportiert.

 

Helena Szymańska, Enkelin von Janina Kacała, mit dem Ehering ihrer Großmutter, der von den Arolsen Archives aufbewahrt wird.

 

Zofias Rosenkranz

Unter den Erinnerungsstücken der ehemaligen KZ-Häftlinge, die den Familien in Białystok übergeben wurden, befand sich auch ein Rosenkranz. Der Rosenkranz war für Zofia Bieniewska vermutlich etwas ganz Besonderes und Wichtiges, denn er wurde viele Male repariert. Ihre Nichte Zofia Zdancewicz-Stojak erhielt dieses bewegende Erinnerungsstück.

Während des Zweiten Weltkriegs waren Zofia Bieniewska und ihr Mann in der Heimatarmee aktiv. Sie versorgte die Menschen im Untergrund mit Lebensmitteln, Medikamenten und Unterschlupf. Im Januar 1944 verhaftete die Gestapo sie wegen ihrer politischen Aktivitäten. Im März wurde sie ins Konzentrationslager Ravensbrück überstellt, wo sie die Häftlingsnummer 32692 erhielt. Im Juni brachten die Nationalsozialisten sie in ein Außenlager des von Neuengamme. Am 15. November 1945 kehrte sie nach Polen zurück.

 

Zofia Zdancewicz-Stojak erhält Erinnerungsstücke von ihrer Tante Zofia Bieniewska.
Rosenkranz von Zofia Bieniewska und Ehering von Janina Kacała

Die Suche nach den Eigentümer*innen

Nach dem Krieg sicherten die Alliierten die gefundenen Kriegsgegenstände ehemaliger KZ-Häftlinge und übergaben sie dem Internationalen Suchdienst (ITS) mit dem Auftrag, die rechtmäßigen Eigentümer*innen zu finden.

Die politische Situation in den Folgejahren, der Kalte Krieg und die fehlende Kommunikation zwischen Ost und West führten dazu, dass die Suche aufgeschoben wurde. Dank des Internets und der sozialen Medien wurde die Kampagne #StolenMemory ins Leben gerufen. Mit Hilfe von Freiwilligen ist es nun möglich, viele Familien zu erreichen und ihnen Gegenstände zurückzugeben, die ihren Angehörigen gehörten.

 

„Süßer Opa“

Unter den persönlichen Gegenständen war auch die Taschenuhr vom Bäcker Piotr Błaszczyk, genannt „Süßer Opa“. Da die Familie bei der Zeremonie selbst nicht anwesend sein konnte, wird sie später zurückgegeben. Im Januar 1944 wurde Piotr Błaszczyk wegen angeblicher politischer Betätigung verhaftet und in das Gefängnis in Białystok gebracht. Die Nationalsozialisten überstellten ihn zwei Monate später zunächst in das Konzentrationslager Stutthof, dann nach weiteren zwei Wochen in das KZ Neuengamme. Nach dem Krieg kehrte er nach Hause zurück.

„Es geht nicht nur um die Rückgabe eines Erinnerungsstücks, das das letzte Eigentum eines geliebten Menschen war, sondern vor allem um die Erinnerung an diese Person und die Aufklärung ihres Schicksals“, betonte Małgorzata Przybyła von den Arolsen Archives. Seit 30 Jahren hilft sie Familien dabei, ihre Familiengeschichten mit Informationen über ihre Angehörigen, die Opfer der NS-Verfolgung wurden, zu füllen.

#StolenMemory

Die Ausstellung #StolenMemory, die wir kürzlich in Bydgoszcz und Warschau gemeinsam mit dem Institut für Nationales Gedenken präsentiert haben, ist noch bis Ende November in Białystok zu sehen. Die Ausstellung erzählt die Schicksale von 16 Verfolgten aus verschiedenen Teilen Polens, deren persönliche Gegenstände von der SS geraubt wurden.

Einige dieser Gegenstände werden immer noch von den Arolsen Archives aufbewahrt. Im Rahmen der Kampagne #StolenMemory suchen wir nach den Familien der Verfolgten und geben die gestohlenen Erinnerungsstücke zurück.

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