Unermüdlich gegen das Vergessen: Interview mit Jörg Kaps
Jörg Kaps hat die jüdische Geschichte Arnstadts aufgearbeitet – und sich dafür stark gemacht, dass die #StolenMemory-Ausstellung der Arolsen Archives in „seiner“ Stadt Halt macht, mitten auf dem Marktplatz. Im Rahmen der Eröffnung spricht er mit uns über sein Engagement, mit dem er sich in Arnstadt und Umgebung nicht nur Freunde macht.
Im Winter 2006 beschließt der Stadtrat der thüringischen Kreisstadt Arnstadt, Stolpersteine für die jüdischen Einwohner*innen verlegen zu lassen, die im Holocaust umgekommen sind. Für die Recherche beauftragt er Jugendpfleger Jörg Kaps. Seine Detektivarbeit beginnt, Ordner um Ordner füllt Kaps mit Informationen, er besucht Archive, erschließt Stammbäume und stellt Kontakte zu Angehörigen der Opfer her, von Amerika und Israel bis nach Chile, Argentinien und Uruguay.
Heute sind über 160 Stolpersteine in Arnstadt verlegt. Für sein Engagement erhält Jörg Kaps 2015 den Obermayer German Jewish History Award, nach einer Nominierung von 15 ehemaligen jüdischen Arnstädter Familien.
Er ist auch die treibende Kraft hinter dem Stopp der #StolenMemory-Wanderausstellung in Arnstadt: In dem aufklappbaren Container sollen Besuchende mehr über die letzten Besitztümer von KZ-Inhaftierten lernen und darüber, wie es mit Hilfe von Freiwilligen heute noch gelingt, diese sogenannten Effekten an Familien der Opfer zurückzugeben.
Herr Kaps, zwei Veranstaltungen finden an diesem Tag in Arnstadt statt: die Eröffnung der #StolenMemory Ausstellung und die zentrale Abschluss-Kundgebung der AfD vor der Bundestagswahl. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
Es hat irgendwie seine Richtigkeit, dass wir ausgerechnet heute eröffnet haben. Ich habe vergangene Woche davon erfahren, dass die AfD hier sein wird, die Vorbereitung für die #StolenMemory-Ausstellung ging jetzt ein Jahr. Dass der Bürgermeister so dahinter war und mich unterstützt hat, ist großartig. Es war auch seine Entscheidung, den Container genau auf den Marktplatz zu stellen. Wissen Sie, auch bei Kindern und Jugendlichen unter 18 hätte die AfD in Thüringen die meisten Stimmen bekommen. Natürlich würde ich mir wünschen, dass es anders wäre, aber wie ich schon bei der Ausstellungseröffnung gesagt habe: So wie die Alten sungen, so zwitschern heute die Jungen. Ich glaube genau das findet sich dort wieder.
Sie sagen, dass Sie nicht zufrieden mit dem Geschichtsunterricht an deutschen Schulen sind. Was würden Sie sich wünschen?
Ich würde mir erstmal wünschen, dass der Geschichtsunterricht allgemein mehr Raum und Zeit bekommt und Lehrer*innen ihren Beitrag zur demokratischen Bildung ernster nehmen, natürlich im Sinne des Grundgesetzes und des Beutelsbacher Konsens‘. Für mich ist es außerdem wichtig, die große Weltgeschichte hier mit dem Ort zu verbinden, weil ich glaube, dass an dieser Stelle das Verstehen anfängt, nicht nur für Jugendliche.
Ein junges Mädchen sagte einmal zu mir, der Holocaust hätte mit Arnstadt gar nichts zu tun gehabt; Auschwitz, Berlin, Buchenwald, dann sei Schluss. Doch alleine hier im Arnstädter Gymnasium gab es sieben jüdische Schüler*innen. Sie sagte mir dann: „Warum erzählt uns das keiner?!“ Das war der Punkt, an dem ich beschlossen habe, ab jetzt Stolperstein-Stadtführungen für die Schüler*innen anzubieten.
Woher nehmen Sie die Kraft, sich so engagiert für die jüdische Geschichte Ihrer Heimatstadt einzusetzen?
Gute Frage. Ich glaube, das kommt vor allem durch den Kontakt zu den Nachfahren der jüdischen Familien Arnstadts: 19 Familien weltweit, die mittlerweile teilweise sehr enge Freunde geworden sind. Das hätte ich mir zu Beginn meiner Recherchen nicht vorstellen können!
Etwa zwei Meter vom Grab meiner Großeltern entfernt stand ein Gedenkstein der Familie Hirschmann, mit den Inschriften „Buchenwald“ und „Auschwitz“. Als Kind habe ich wohl meine Mutter gefragt: „Was ist das?“ Sie hat es mir erklärt. Später als langhaariger DDR-Jugendlicher habe ich in einem Buchladen in Budapest dann „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon entdeckt und was ich darin gelesen habe, hat sich angefühlt wie eine schallende Ohrfeige: Eines Tages sei ein älteres Ehepaar in Strohsäcke eingenäht zum Verbrennen nach Buchenwald geschickt worden; auf der Innenseite ihrer Kleidung war eingestickt: Hirschmann, Arnstadt.
Heute darf ich die Nachfahren dieser Familie Hirschmann meine Freunde nennen. Ihre Enkelin ist 2015 sogar nach Berlin mitgekommen, wo ich den German Jewish History Award überreicht bekommen habe. Das gibt mir Energie.
»Ich kann dazu beitragen, dass durch Flucht und Vertreibung zerrissene Familienstränge oder Freundschaften wieder zueinanderfinden.«
Jörg Kaps, Stadtverwaltung Arnstadt
Haben Sie trotzdem schon Momente gehabt, wo Sie mit Ihrem Engagement kürzertreten wollten?
Ich denke jeder und jede, der oder die sich so auf diese Geschichte einlässt und sich einsetzt in seiner Stadt, macht sich nicht nur Freunde. Auch ich war mehrfach drauf und dran, die Recherchen hinzuschmeißen, aber ein Nachfahre sagte zu mir: „Jörg, wenn du das nicht mehr machst, dann gibt’s das in Arnstadt nicht mehr.“ Ich kann dazu beitragen, dass durch Flucht und Vertreibung zerrissene Familienstränge oder Freundschaften wieder zueinanderfinden.
Ist Ihnen in Ihrer Recherche ein Moment besonders in Erinnerung geblieben?
Oh, das ist schwer. Es gibt so viele Geschichten, die ich nicht gegeneinander aufwiegen kann. Zum Beispiel die Geschichte von Leo Ehrlich, auch ein Arnstädter Jude, der zum Schluss in Cuxhaven lebte. Er hatte einen großen Vertrag mit der ansässigen Fischindustrie, was den arischen Händlern dort natürlich gar nicht gepasst hat. Er wurde in einem Hamburger Gefängnis inhaftiert, von dort nach Sachsenhausen, Dachau und Buchenwald deportiert – alles Dinge, die über Infos aus den Arolsen Archives nachzuvollziehen waren. In der „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“ wurde er schließlich wie viele andere nicht mehr arbeitsfähige Juden und Jüdinnen vergast. Eine Tochter von ihm hat überlebt, Erika, sie lebte in Miami.
Kurz vor Erikas Geburtstag hat mich Alicia, Nachfahrin einer anderen jüdischen Familie aus Arnstadt, zufällig angerufen. Sie lebte in Uruguay, erzählte aber, dass sie gerade ebenfalls in Miami war, um ihren Sohn zu besuchen. Also habe ich sie gebeten, in Erikas Altersheim anzurufen und ihr in meinem Namen zum Geburtstag zu gratulieren. Sie verneinte – und ging stattdessen mit Kuchen und Kerzen hin. Noch am gleichen Abend bekam ich ein Foto, wie beide Arm in Arm dastehen. Und Alicia schrieb mir: „Jörg, ich habe mein ganzes Leben lang darunter gelitten, dass meine beiden Großmütter im Holocaust ermordet wurden. Doch heute habe ich das Gefühl, dass ich eine Großmutter gefunden habe.“
Die #StolenMemory-Ausstellung ist noch bis zum 6. Oktober in Arnstadt zu sehen. Die weiteren Stationen sind hier aufgeführt.